„Wir wollen eine einstweilige Anordnung bekommen, um den Vollzug des Gesetzes zu stoppen“, sagt Parteivorsitzender Sigmar Gabriel.

Berlin. Die SPD will die geplante Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke noch in diesem Jahr gerichtlich aufhalten lassen. „Wir wollen eine einstweilige Anordnung bekommen, um den Vollzug des Gesetzes zu stoppen“, sagte der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel.

Die Regierung will das neue Atomgesetz im Eilverfahren durch das Parlament bringen. Es soll schon zum 1. Januar 2011 in Kraft treten. Wegen einer fehlenden schwarz-gelben Mehrheit soll es ohne Zustimmung des Bundesrats beschlossen werden – daher wird das Verfassungsgericht wahrscheinlich das letzte Wort haben. Am Samstag hatten nach Veranstalterangaben bis zu 100000 Menschen in Berlin gegen die schwarz-gelbe Atompolitik demonstriert.

Gabriel sagte, er hätte von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) „mehr Mumm“ erwartet bei der Frage der Nachrüstung von Atomkraftwerken. „Er müsste kämpfen, und zwar weniger um den CDU- Vorsitz in Nordrhein-Westfalen, sondern um die Reaktorsicherheit.“ Die Regierung sei den Energiekonzernen in dem Punkt viel zu stark entgegengekommen.

Röttgens Ministerium hatte bei durchschnittlich zwölf Jahre längeren Laufzeiten Sicherheitskosten von 20 Milliarden Euro berechnet, davon ist aber derzeit keine Rede mehr. Röttgen betont aber, bei der Sicherheit werde nicht gespart und es gäbe keine Obergrenze.

Gabriel sagte, die Regierung bremse entgegen ihrer Ankündigungen den Ausbau der Erneuerbaren Energien aus. Es seien bisher 300000 Arbeitsplätze in diesem Bereich entstanden, „weil die Leuten wussten, wir steigen aus der Atomenergie aus“. Bis 2020 wäre ohne Laufzeitverlängerung eine Verdopplung der Jobs in der Erneuerbare- Energie-Branche auf 600000 möglich.

Den geplanten Ökoenergie-Fonds der Regierung bezeichnete Gabriel als Witz. „Dieser Fonds ist ein Mini-Fonds, das sind Peanuts.“ Die Regierung will den Fonds unter anderem mit dem Geld aus längeren Laufzeiten füllen.

Die Vorwürfe von Union und FDP, Rot-Grün habe sich bei der Atommüll-Endlagersuche unverantwortlich verhalten und Zeit verschwendet, wies der frühere Umweltminister zurück.

Zehntausende Atomkraftgegner demonstrieren in Berlin

Das Ergebnis des Tests steht schon vorher fest. Das Unwort des Jahres will der Mann auf der Bühne der großen Demonstration gegen Atomkraft am Sonnabend in Berlin wissen. Und stellt den tausenden Menschen vor ihm zur Auswahl: Jahrhundertsommer, Wachstumsbeschleunigungsgesetz und – Laufzeitverlängerung. Ein ohrenbetäubendes Pfeifen, Tröten und Buh-Rufen hallt bei dem dritten Wort über den Platz vor dem Hauptbahnhof und leitet eine Demonstration ein, die die Erwartungen der Veranstalter deutlich übertrifft.

Schon lange vor Beginn am Mittag quillt der Platz vor Menschen über. Säße Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrem Büro, hätte sie den besten Ausblick auf den Protest gegen ihre Politik der längeren Nutzung der Atomenergie : Direkt gegenüber vom Kanzleramt, getrennt nur durch die schmale Spree, strömen Menschen aus dem Bahnhof oder ankommenden Bussen. Im stürmischen Wind flattern rote, grüne und weiße Fahnen, aber wie den 80er-Jahren dominiert das Gelb mit roter Sonne und dem alten Slogan „Atomkraft? – Nein Danke“.

Die Veranstalter – mehrere große Umweltverbände – sprechen später von 100 000 Demonstranten, viel mehr als sie erwartet hätten. Die Polizei sagte, die angemeldete Zahl von 30 000 Teilnehmern sei deutlich erfüllt. Beobachter schätzten mehr als 50 000 Menschen, die sich in einem langen Zug auf den Weg machen, um Reichstag und Kanzleramt zu umzingeln.

Angeführt wird der Zug von Traktoren aus Niedersachsen, wo schon zwei Generationen von Bauern gegen die umstrittenen Endlager für den Atommüll kämpfen. Auf einem gelbem Bauwagen, der an einem großen Traktor hängt, steht: „Jahrzehntelang belogen – jahrtausendelang verstrahlt“.

Dass auch bei diesem Protest die demografische Entwicklung eine Rolle spielt, lässt sich kaum übersehen. Junge Eltern, Studenten oder Schüler laufen mit – aber sie dominieren nicht mehr die Bewegung wie in den 80er-Jahren. Ältere Männer und Frauen mit wenigen oder grauen Haaren klatschen zur alten Protest-Hymne der niederländischen Band Bots „Was wollen wir trinken?“ Eine Ärztin erzählt auf der Bühne von ihrer ersten Demonstration gegen Atomkraft im Jahr 1976.

An die großen Proteste der Friedens- und Umweltbewegung, an die musikalisch erinnert wird, reicht die Menge der Demonstranten aber nicht heran. Insgesamt kommen aus ganz Deutschland nicht viel mehr Menschen zusammen, als in Berlin früher alle zwei Wochen zur 1. Bundesliga ins Olympiastadion gingen.

Das Ziel der symbolischen Umzingelung von Reichstag und Kanzleramt erreichen die vielen Zehntausend aber trotzdem schnell. Als die letzten Menschen den Platz vor dem Bahnhof verlassen, trifft die Spitze des Zuges am anderen Spreeufer wieder ein. Die Straße zwischen Kanzleramt und Bundestag ist ein buntes Fahnenmeer. Ein Sprecher der Umweltschutz-Gruppen, die zu dem Protest unter dem Motto „Atomkraft: Schluss jetzt“ aufgerufen hatten, sagt stolz: „Das Regierungsviertel ist nicht nur umzingelt, es ist geflutet von Menschen.“

Und noch einen kleinen Triumph feiern die Atomkraftgegner. Polizei und das Verwaltungsgericht hatten ihnen die gewünschte Kundgebung auf der Wiese vor dem Reichstag nicht erlaubt. Am Nachmittag stürmen aber trotzdem tausenden Menschen über die rot-weißen Absperrgitter auf den Rasen. Die Polizei lässt sie weitgehend gewähren.

Auch die parlamentarische Opposition nutzt ihre Stunde, obwohl sie nicht auf die Rednerbühne darf. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel warnt am Rand der Demonstration vor massivem gesellschaftlichen Konfliktpotenzial: „Ich fürchte, dass es nicht nur friedliche Auseinandersetzungen geben wird.“ Grünen-Chefin Claudia Roth wirft Union und FDP einen Anschlag auf die Demokratie vor.

Am Schluss bilden sich lange Schlangen vor einem Förderband. Gelb bemalte Konservendosen oder kleine gelbe Bierfässer mit der Aufschrift „1 Million Jahre Strahlung“ werden als symbolische „Atommüll-Tonnen“ auf das Band geworfen und zu einem großen Berg aufgetürmt. Der Moderator auf der Bühne weist gleichzeitig indirekt auf ein weiteres Zukunftsproblem der alternden Gesellschaft hin. Vermisst wird eine Frau namens Lotta. Der Sprecher entschuldigt sich für seine dröhnende Ansage: „Ich muss es so laut sagen, sie hat ein Hörgerät.“