Der neue SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier spricht im Interview mit dem “Hamburger Abendblatt“ über sein Verhältnis zu SPD-Chef Sigmar Gabriel und den Vorwurf von Alt-Kanzler Helmut Schmidt, die Sozialdemokraten seien nicht auf der Höhe der Zeit.

Hamburger Abendblatt: Herr Steinmeier, die SPD hat sich nach der verheerenden Niederlage bei der Bundestagswahl neu aufgestellt. Wie fühlt man sich als letzter Überlebender der Generation Schröder?

Frank-Walter Steinmeier: Wir wollten regieren, aber der Wähler hat anders entschieden. Jetzt sind wir die führende Oppositionspartei. Und was die Generation Schröder betrifft: Ich war vor nicht allzu langer Zeit bei seinem 65. Geburtstag. Er hat zwar ein paar graue Haare weniger als ich, aber bis zu meinem 65. Geburtstag ist es schon noch ein bisschen hin.

Abendblatt: Aber Schröder fehlt Ihnen schon.

Steinmeier: Natürlich fehlen Typen wie Gerhard Schröder in der deutschen Politik. Er hat sich nie vor Entscheidungen gedrückt, waren sie auch noch so schwierig. Das unterscheidet ihn in positiver Weise von seiner Nachfolgerin.

Abendblatt: Angela Merkel regiert jetzt mit Guido Westerwelle...

Steinmeier: ... und hat einen fürchterlichen Fehlstart hingelegt. Noch nie hat eine Bundesregierung mit so viel Streit begonnen.

Abendblatt: Nicht mal Rot-Grün?

Steinmeier: Die ersten Wochen von Schwarz-Gelb sind eine einzige Katastrophe. Diese Regierung geht mit einer Bedenkenlosigkeit in die Neuverschuldung, die selbst ich ihr nicht zugetraut hätte. Und sie verteilt als allererstes Geschenke an ihre Klientel. Wie kann man in einer dramatischen wirtschaftlichen Situation, die keine Spielräume lässt, ausgerechnet Hotelübernachtungen steuerlich begünstigen? Besondere Sorge bereitet mir eine Weichenstellung in der Familienpolitik, die völlig an der Realität von Großstädten wie Hamburg vorbeigeht.

Abendblatt: Nämlich?

Steinmeier: Eine Prämie für Eltern, die ihre Kinder nicht mit anderen gemeinsam in der Kita lernen lassen, wird die soziale Spaltung in den Großstädten vertiefen. Das Betreuungsgeld führt dazu, dass gerade jene Kinder in den Familien bleiben, die es nötig hätten, zusammen mit anderen die deutsche Sprache zu lernen. Diesen Nachteil werden viele Kinder nie mehr aufholen können.

Abendblatt: Der neue SPD-Chef Gabriel hat der Bundesregierung einen „Pakt der wirtschaftlichen Vernunft“ angeboten. Können Sie erklären, was er damit meint?

Steinmeier: Wir sind ernsthaft bereit, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, wenn sie den richtigen Weg mit gezielten Investitionen in Bildung und Zukunftsbranchen zu mehr Wachstum geht. Breit gestreute Steuersenkungen auf Pump, wie Schwarz-Gelb sie plant, führen nicht zu Wachstum. Das war bei Ronald Reagan und Theo Waigel so, und es wird bei Angela Merkel nicht anders sein.

Abendblatt: Sind staatliche Hilfen für den Autohersteller Opel wirtschaftlich vernünftig?

Steinmeier: Was die alte Bundesregierung getan hat, war hoch vernünftig. Ohne unsere Unterstützung gäbe es Opel nicht mehr. Zehntausende Arbeitsplätze wären verloren gegangen. Stattdessen hat GM den Überbrückungskredit zurückgezahlt, die Arbeitnehmer sind noch im Betrieb und zahlen Steuern und Sozialabgaben statt auf Unterstützung angewiesen zu sein.

Abendblatt: General Motors will Opel nicht mehr verkaufen. Was ist jetzt geboten?

Steinmeier: Es ist gut, dass General Motors die vier deutschen Opel-Standorte erhalten will. Wenn das Konzept darüber hinaus tragfähig ist und Arbeitsplätze in der Größenordnung des Magna-Konzepts garantiert werden, werden Bund und Länder ihre Hilfe nicht verweigern können. Voraussetzung muss allerdings sein, dass die Mittel für den Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland eingesetzt werden.

Abendblatt: Wer trägt die größte Verantwortung für den Niedergang der deutschen Sozialdemokratie? Müntefering? Lafontaine? Oder doch Schröder?

Steinmeier: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Es ist mir zu billig, das an einzelnen Personen fest zu machen. Die Ursachen liegen tiefer, teilweise Jahrzehnte zurück.

Abendblatt: Altkanzler Helmut Schmidt hat den Sozialdemokraten im Abendblatt-Interview vorgehalten, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Hat die SPD die Bedeutung von Themen wie der Integration von Zuwanderern nicht erkannt?

Steinmeier: Ich respektiere Helmut Schmidt sehr. Ich weiß, dass ihm die Integration – wie mir selbst – ein besonderes Anliegen ist. Da muss die ganze Gesellschaft Versäumnisse aus 50 Jahren Zuwanderung aufholen. Das funktioniert nur, wenn wir mehr in frühkindliche Bildung und gemeinsames Lernen investieren.

Abendblatt: Die schwarz-gelbe Bundesregierung plant Integrationsverträge für Zuwanderer. Ähnlich Konkretes ist von der SPD nicht zu hören…

Steinmeier: Konkret zeigt sich hier vor allem die Konzeptlosigkeit der Regierung: Wer die Integration verbessern will, muss Kindern die Chance geben gemeinsam mit anderen in Kitas zu lernen und Betreuungseinrichtungen ausbauen. Wer stattdessen Prämien zahlt, damit die Kinder zuhause bleiben, kann Verträge schließen, soviel er will – er wird die Integration nicht voranbringen.

Abendblatt: Eine andere Herausforderung unserer Zeit ist der Schutz persönlicher Daten. Der Bundesbeauftragte Schaar beklagt, die Daten seien außer Kontrolle geraten. Welche Antwort hat die SPD?

Steinmeier: Die Fälle von Datenmissbrauch in deutschen Großunternehmen sind eklatant. Die Skandale der jüngsten Zeit sind nicht vergessen. Hier ist alles aus den Fugen geraten. Es kann doch nicht sein, dass man seine Bürgerrechte am Fabriktor abgibt. Wir werden deshalb in der kommenden Woche einen Entwurf für ein neues Arbeitnehmerdatenschutzgesetz in den Bundestag einbringen.

Abendblatt: Was steht in dem Gesetzentwurf?

Steinmeier: Er regelt, welche Daten Arbeitgeber von Arbeitnehmern erheben, verwenden und weitergeben dürfen. Er schafft bessere Voraussetzungen dafür, dass Arbeitnehmer ihre Rechte wahren können. Und er schafft Übersichtlichkeit und Transparenz. Jeder Betrieb mit mehr als fünf Beschäftigten wird in Zukunft einen Beschäftigtendatenschutzbeauftragten stellen müssen. Besonders sensibel muss man beispielsweise mit Gesundheitsdaten verfahren werden. So wollen wir die Erstellung von Persönlichkeits- und Gesundheitsprofilen verbieten.

Abendblatt: Was droht Unternehmen, die dagegen verstoßen?

Steinmeier: Das kommt auf die Schwere des Gesetzesverstoßes an. Im Gesetzentwurf sind empfindliche Geldstrafen und in besonders schweren Fällen auch Gefängnisstrafen vorgesehen.

Abendblatt: Herr Steinmeier, wer führt eigentlich die Opposition? Sigmar Gabriel, Andrea Nahles oder Sie?

Steinmeier: Sigmar Gabriel führt die Partei, ich führe die Fraktion. Wir kennen uns lange und gut. Und ich kann ihnen sagen, dass wir gemeinsam eine starke Opposition sein werden.

Abendblatt: Sie haben Generalsekretärin Nahles vergessen.

Steinmeier: Wie könnte ich? Andrea Nahles ist Generalsekretärin der Partei. Sie wird den Neuanfang der SPD maßgeblich mitgestalten.

Abendblatt: Wer hat den ersten Zugriff auf die nächste Kanzlerkandidatur?

Steinmeier: (lacht) Sie machen Witze? Die letzte Bundestagswahl ist gerade erst vorbei. Da zerbricht sich doch jetzt niemand den Kopf darüber. Aber bei uns galt immer die Regel: Der Parteivorsitzende hat das Vorschlagsrecht.

Abendblatt: Welche Machtoptionen hat die SPD überhaupt? Selbst die Grünen fremdeln...

Steinmeier: Die Annahme, die Grünen seien der natürliche Koalitionspartner der SPD, stimmt nicht mehr. Das wissen wir, seit es Schwarz-Grün in Hamburg gibt. Trotzdem behaupte ich, dass sich SPD und Grüne inhaltlich immer noch deutlich näher sind als allen anderen Parteien.

Abendblatt: Glauben Sie noch an rot-grüne Mehrheiten?

Steinmeier: Ja. Aber wir erleben, dass in Sechsparteienparlamenten wie jetzt Mehrheitsbildungen schwieriger sind als vor 20 Jahren. Darauf hat die SPD sich einzustellen. Wir müssen uns so präsentieren, dass die Machtoptionen wieder reichhaltiger werden als bei der letzten Bundestagswahl.

Abendblatt: Herr Steinmeier, erste Außenministerin der Europäischen Union ist die weithin unbekannte Engländerin Catherine Ashton geworden. Denken Sie manchmal: Warum haben die mich nicht gefragt?

Steinmeier: Nein. Ich finde, ich habe eine wichtige und anspruchsvolle Aufgabe übernommen. Und das auch noch gerne.