Brüssel/London. Mays Brexit-Taktik ist ein Erpressungsversuch in vorletzter Minute. Die EU muss jetzt handeln – es wäre leichtsinnig, es nicht zu tun.

Die nächsten Tage könnten spannend werden beim Brexit-Poker. Der britischen Premierministerin Theresa May ging bisher bei der Vorbereitung des EU-Austritts fast alles schief, aber auf der Schlussgeraden ist ihr noch ein Coup gelungen.

May hat trickreich erstmals eine Mehrheit im Parlament hinter sich versammelt, die vielleicht doch noch den ausgehandelten Vertrag über einen geregelten EU-Austritt retten könnte.

EU-Politiker haben in den vergangenen Wochen das britische Parlament immer wieder aufgefordert, endlich zu sagen, was es eigentlich will. Man hoffte eher auf Stimmen für ein zweites Referendum oder eine Austritts-Vertagung. Vergeblich.

Mays Taktik ist nicht die feine englische Art

Jetzt hat May immerhin eine Antwort gegeben. Allerdings nur, indem sie den Ball zurück ins Brüsseler Spielfeld geschmettert hat – und im Namen der Abgeordneten Nachverhandlungen in der umstrittenen irischen Grenzfrage verlangt.

Der Erpressungsversuch in vorletzter Minute ist sicher nicht die feine englische Art, überraschend kommt er nicht.

Das Problem, vor dem die EU jetzt steht, hat man in Brüssel hinter verschlossenen Türen genauso kommen sehen. Kann die Union die Forderung nach Nachverhandlungen des Austrittsvertrags wirklich so harsch ablehnen?

Für die EU steht viel auf dem Spiel

Von den ersten Reaktionen aus Brüssel sollte sich niemand täuschen lassen. Die schroffe Tonart soll überdecken, dass die EU in Wahrheit eine Zerreißprobe fürchtet. So geschlossen ist das Lager der 27 Mitgliedstaaten in dieser Frage nicht.

Dafür steht ja auch für die EU zu viel auf dem Spiel: Mit einem bloßen „No“ würde sie riskieren, dass es am 29. März tatsächlich zu einem chaotischen Austritt Großbritanniens kommt. Der wäre nicht nur für das Vereinigte Königreich eine Katastrophe, sondern würde auch den Kontinent in Mitleidenschaft ziehen – voran die exportstarke deutsche Wirtschaft.

Das Verhältnis zu den Briten wäre nach diesem Bruch für viele Jahre belastet. Und die EU stünde in aller Welt ziemlich blamiert da. Wer mag dafür die Verantwortung tragen? Diese Frage wird man jetzt in den EU-Hauptstädten zügig beantworten müssen.

Womöglich geht es auch ohne Vertragsänderung

So sehr man sich über Mays monatelange Hinhalte-Taktik ärgern darf: Die Premierministerin hat vor zwei Wochen glaubhaft demonstriert, dass es für den ursprünglich ausgehandelten Austrittsvertrag keine Mehrheit gibt. Damals hatte des britische Parlament den Brexit-Deal von May abgelehnt.

Nun zeigt die Premierministerin, dass der Deal in veränderter Form wohl doch noch eine Chance hätte – zumal Labour-Chef Jeremy Corbyn schon Signale aussendet, May zu unterstützen. Die EU sollte deshalb zumindest rasch Gespräche mit London führen, um zu erkunden, wie groß das Entgegenkommen, wie weitgehend der Verzicht auf Garantien sein müsste, um eine Mehrheit im Unterhaus zu sichern.

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Erforderlich wäre vermutlich nicht einmal eine Vertragsänderung: Auch in anderen Fällen hat die EU schon mit ergänzenden, aber rechtsverbindlichen Erklärungen umstrittene Abkommen entschärft.

Noch ist das Debakel vielleicht abzuwenden

Und hier geht es ja nur um eine Rückversicherung für den vermeidbaren Fall, dass sich London und Brüssel innerhalb von drei Jahren nicht auf eine andere, tragfähige Lösung einigen, wie die Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland offengehalten werden kann.

Dennoch bleibt das Risiko, dass alle Zugeständnisse, selbst das einer Befristung des „Backstops“, vergeblich sein können – und der Vertrag am Ende im Unterhaus doch scheitert. Die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten müssen sich für diesen Fall wappnen und ihre Vorbereitungen auf einen chaotischen Brexit vorantreiben.

Aber noch ist das Debakel vielleicht abzuwenden. Es wäre töricht, diese Chance nicht zu nutzen.