Berlin. Wie umgehen mit Provokationen der Türkei im Wahlkampf? Bei Maybrit Illner antworteten deutsche Außenpolitiker ziemlich unterschiedlich.
Diese Debatte ließ sich selbst Sigmar Gabriel nicht entgehen. Und obgleich er nur für einige Minuten zugeschaltet war zur Talk-Show von Maybrit Illner, streute er genügend Zündstoff für die restliche Talkshow am Donnerstagabend.
„Erdogan und die Deutschen – Eskalation im Wahlkampf?“, lautete das Thema der Sendung. Die entwickelte sich zu einem wahren Lehrstück über politisches Strategiedenken und das diplomatische Geschick des rhetorischen Mäanderns.
Was ist dran an Merkels angekündigter „massiv veränderter Türkeipolitik“?
Dass Recep Tayyip Erdogan seit einigen Monaten immer weniger zimperlich daran geht, die deutsche Politik zu diffamieren, dürfte gemeinhin anerkannt sein. Nachdem der türkische Präsident der Bundesregierung im Frühjahr Nazi-Methoden bescheinigt hatte, rief er nun türkischstämmige Wähler in Deutschland zum Wahlboykott von CDU, SPD und den Grünen auf, diesen „Feinden der Türkei“.
Die Verhaftung des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel, des Menschenrechtlers Peter Steudtner und der Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu Corlu, und nun der Boykottaufruf – das zwinge die Bundesregierung zu einer „massiv veränderten Türkeipolitik“, verkündete zuletzt Angela Merkel mit ungewöhnlicher Schärfe. Ob darauf wirklich ein härteres Durchgreifen folgt, daran wuchsen während der anregenden Illner-Sendung jedoch Zweifel.
Drohungen gegen seine Familie: Sigmar Gabriel beschwichtigt
Zum einen wegen Sigmar Gabriel. Hatte der Außenminister noch am Freitag entsetzt auf Erdogans Aufruf reagiert („Das ist ein bislang einmaliger Akt des Eingriffs in die Souveränität unseres Landes“), wiegelte er bei Illner geradezu ab. „Der will uns ja spalten, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken“, sagte er zwar über Erdogan.
Angesprochen auf die persönlichen Drohungen gegen seine Frau im Zusammenhang mit seinem Konflikt mit Erdogan, schien er aber auf ein Glättend der Wogen aus: „Es waren eher Belästigungen. Wir erleben das wahrscheinlich alle ab und zu.“ Solche Belästigungen seien aber „bei weitem nicht so schlimm, wie die Diffamierung Deutschlands als Nazi-Deutschland“.
„Verharmloste“ Morddrohungen
Dem widersprach die Anwältin und Menschenrechtlerin Seyran Ates vehement: „Ich bekomme täglich Drohungen von Erdogan-Anhängern, der Außenminister verharmlost das“, mahnte die Mitbegründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, die nach den Drohungen unter Polizeischutz steht.
Dass es Erdogan mit all seinen Provokationen und Aufrufen an die drei Millionen türkeistämmigen Deutschen vor allem um eines geht – ihn selbst – darin immerhin waren sich fast alle Gäste des Abends einig. Doch die Frage nach der angemessenen Reaktion sorgte für spannenden Zündstoff.
Norbert Röttgen glaubt nicht an echten Kurswechsel gegenüber Erdogan
Gabriel beantwortete das bündig: Am besten würden Erdogan die nun geplanten Wirtschaftssanktionen treffen. Und die Frage nach einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen erübrige sich ohnehin, denn – und das betonte der Minister dreimal – „es gibt keine wirklichen Beitrittsverhandlungen“.
Was der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, der schon lange den Stopp der EU-Beitrittsgespräche fordert dazu sagte, klang nicht mehr ganz so einfach. „Ich glaube, es gibt auch jetzt keinen Kurswechsel.“ Die sogenannten Wirtschaftssanktionen seien keine, sondern nur Zuschusskürzungen, monierte er.
Nato-Mitgliedschaft und Flüchtlingsdeal – raus oder bleiben?
Ob die Türkei aus der Nato und dem Flüchtlingsdeal rausmüsse, wollte Illner zum Abschluss von Röttgen wissen, der eben erst gesagt hatte, „die Türkei wird zum autoritären System und schafft die Rechtsstaatlichkeit ab“. Die interessenbasierte Diplomatie Deutschlands lasse nur einen Weg zu, sagte Röttgen da: dass die Türkei in der Nato bleibt, „auch wenn sie eine Belastung für die Nato ist.“
Diese Deutschen waren in türkischer Haft
Der beruhigendste Beitrag dieses Abends dürfte somit von dem Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak gekommen sein, der zu türkischstämmigen Wählern in Deutschland forscht. Von diesen 1,6 Millionen Wahlberechtigten hätten bei der vergangenen Bundestagswahl mehr als 80 Prozent die von Erdogan angeschwärzten Parteien gewählt – vorrangig SPD und Grüne, sagte Toprak. „Und ich denke, die meisten werden sich von den Aufrufen Erdogans auch jetzt nicht beeinflussen lassen.“ Wer ihm glaubt, ging vielleicht etwas ruhiger zu Bett.