Die Hamburger Schauspielerin springt für die erkrankte Karin Neuhäuser bei “Der zerbrochne Krug“ im Thalia ein. Ein Kraftakt, der Spaß macht

Hamburg. Manchmal, im Fußball zum Beispiel, kann der Ersatzspieler zum Joker werden. 1996 drehte der eingewechselte Oliver Bierhoff das Finalspiel der deutschen Elf bei der Europameisterschaft, nach einem 0:1-Rückstand gegen die Tschechen mit zwei Toren noch um in einen Sieg. In Bastian Krafts Inszenierung von "Der zerbrochne Krug" könnte Sabine Orléans so ein Joker sein.

Mitte August erreichte die in Hamburg lebende Schauspielerin ein Anruf der Thalia-Dramaturgie, ob sie für die erkrankte Karin Neuhäuser einspringen und die Rolle des Gerichtsrats Walter übernehmen könne. "Ich habe sofort zugesagt", erzählt Sabine Orléans. "Diese Rolle hat mich gereizt, auch wenn ich den Regisseur nicht kannte."

Thalia-Intendant Joachim Lux, Chefdramaturgin Beate Heine und Regisseur Bastian Kraft suchten verzweifelt nach einer Alternative. "Das war ein totaler Schock", sagt Beate Heine. "Für kurze Zeit stand die Frage im Raum, die Rolle doch noch mit einem männlichen Ensemblemitglied zu besetzen, aber das hätte das Konzept durchkreuzt." Heine und Kraft kamen zeitgleich auf Orléans, die sie am Schauspiel Hannover erlebt hatten. Den Zeitpunkt der Premiere zu verschieben, war keine Option. "Das ist schon eine Extremsituation, in der wertvolle Zeit abhanden kommt", sagt Bastian Kraft. "Das hat den Druck erhöht, aber wir konnten ja noch sechs Wochen proben."

Die Sonne brennt an einem dieser letzten warmen Tage auf das Café Leinpfad herunter, Orléans bestellt die erste von drei großen Apfelsaftschorlen. Ein wenig nervös ist sie nun schon vor der Premiere am 22. September im Thalia-Theater. Die erste Frage, die sie dem Regisseur gestellt hatte, war die, ob sie den Gerichtsrat Walter als Mann oder als Frau spiele. "Ich finde es gut, dass der Gerichtsrat weiblich ist. Das betont das Geschlechtliche der Tat und macht die Beziehung zum Dorfrichter Adam auch interessanter", sagt sie. "Manch einer könnte ja denken, ach ja, eine Frau, die kriege ich doch schnell für meine Zwecke rum. Das ergibt spannende Ansätze, um zu experimentieren."

Da passt es, dass der junge Regisseur Bastian Kraft in seinen gefeierten Inszenierungen im Thalia in der Gaußstraße wie zuletzt "Orlando" gerne und gekonnt mit Geschlechterrollen spielt. Er habe ihr schnell eine überzeugende Ästhetik vermittelt, dem Stück etwas entgegengesetzt. "Das Konzept des Regisseurs hat mich überzeugt." Vor allem genießt es Orléans, nach langen Jahren mal wieder in ihrer Heimatstadt zu spielen. Im Jahre 2000 wurde sie Teil von Tom Strombergs Schauspielhausensemble, blieb der Hansestadt auch nach dem Ende der Ära treu. "Ich habe mich in diese Stadt verliebt und fühle mich hier einfach sauwohl", sagt sie. Herum kommt sie ohnehin genug. Orléans ist neben ihrer Theaterarbeit eine gefragte Kino und TV-Darstellerin.

Heinrich von Kleists Komödie um den Dorfrichter Adam, der des Nachts in die Kammer der jungen Eve Rull eindringt, um sie mithilfe einer Erpressung gefügig zu machen, und vor der Entdeckung den Krug der Mutter Marthe zerbrechend aus dem Fenster stürzt, bietet Schauspielern viele Agitationsflächen. Zumal der verlogene Dorfrichter, hier gespielt von Philipp Hochmair, die ganze Zeit verhindern muss, sich selbst zu entlarven. Die Suche nach der Wahrheit gestaltet sich schwierig, die Ordnung bleibt uneindeutig. Orléans schien für Beate Heine auch deshalb die richtige Besetzung, weil sie vor einigen Jahren in einer "Orestie"-Inszenierung von Nicolas Stemann bereits neben Philipp Hochmair in der Rolle der Mutter auf der Bühne stand.

Die Ersatzspielerin fühlt sich von allen Kollegen sehr warmherzig empfangen. Nach einer Leseprobe musste sie gleich allein vor eine Kamera. "Das ist schon anders, als mit einem Partner zu spielen. Hier bin ich vom Impuls abgeschnitten. Die Kamera projiziert das Geschehen auf eine zweite Ebene." Seither probt sie zweimal täglich mehrere Stunden lang an sechs Tagen in der Woche, dazwischen lernt sie den Text. "Ich stand in den ersten Wochen ziemlich unter Strom. Man agiert energetisch auf einem hohen Level, gleichzeitig schläft man schlecht, weil immer nebenbei Text läuft." Dabei freut sich Orléans sehr über den hermetischen Stoff des Sprachmanikers. "Kleist ist sprachlich die absolute S-Klasse", sagt sie. "Wir sind wie ein Sprachorchester, in dem jeder ein anderes Instrument hat und andere Tempi spielt, aber trotzdem ein Ganzes entsteht. Dafür sind Kontraste wichtig, auch körperlich."

Jeder, der Orléans gegenübersitzt und sich versucht sieht, das strapazierte Wort von der "Vollblutschauspielerin" zu bemühen, glaubt sofort, dass sie als Gerichtsrat und damit aufklärerische Figur dem triebgesteuerten Verbrecher, der sich zum Zwecke des Machterhalts der Lüge und der Erpressung bedient, Paroli bietet. "Was der da abzieht ist ja ganz mies. Gleichzeitig wühlt er in seiner Schuld, treibt das immer weiter und kann scheinbar einfach nicht aufhören." Die Figuren findet sie sehr modern. "Manchmal habe ich das Gefühl, als hätte Kleist schon etwas von Freud gewusst. Ich, Über-Ich, die Abgründe, das Unbewusste, der Tod, das Triebhafte und die Sexualität, alles ist hier präsent." Am Ende wird die Ordnung zumindest äußerlich wiederhergestellt sein. Und womöglich entscheidet Or léans das Spiel im doppelten Sinne.

"Der zerbrochne Krug" Premiere Sa 22.9., 20.00, Thalia-Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de