Unter der Leitung von Dirigent Jeffrey Tate paarten sie ein Orchesterwerk mit ungewöhnlicher Videokunst. Das Wagnis ging auf.

Hamburg. Die Sphinx stürzte sich vom Felsen, als Ödipus alle ihre Fragen beantworten konnte. Sie starb mit ihrem letzten Rätsel. Doch auch ihr Bezwinger ging an seinem Wissen alsbald zugrunde. Dinge, die mit ihrem Geheimnis ihre besondere Würde wahren, sind seither eine bedrohte Spezies. Es gibt sie bevorzugt noch in der Kunst.

Ein solch auratisches Rätsel präsentierten nun die Hamburger Symphoniker zum Auftakt der Saison am Sonntag in der Laeiszhalle. Olivier Messiaens hochkomplexes Orchesterstück "Des Canyons aux Étoiles" (Von den Schluchten zu den Sternen) und der Film des israelischen Videokünstlers Daniel Landau ergaben ein multimediales Gesamtereignis von der emotionalen Intensität, bildnerischen Kraft und verwirrenden Vielschichtigkeit eines echten Mythos.

Denn Landau verzichtet (beinahe) durchgängig darauf, die Musik zu illustrieren. Zwar waren einige Schnitte mit der Musik synchronisiert, und zum Bild von wogenden Ähren ließ sich sogar mal eine Windmaschine hören. Doch blieben das eher Rettungsanker fürs Verstehen. Viel häufiger gingen die Bilder auf den drei Bildschirmen ihre eigenen Wege. Sie erzählten eine nur in Umrissen zu erkennende Geschichte: von der Geburt des Lebens aus dem Wasser, von Müllbergen, die die Erde überwuchern, oder vom Zahn der Zeit, der eine Autokarosserie zernagt. Die Menschen, die Landau zeigt, sind schon bei ihrer Geburt alt: Ein Greis wird aus dem mütterlichen Meer geboren. Kleinwüchsige Darsteller mit der Körpergröße von Kindern, aber dem Gesicht von Erwachsenen, kommen unter Tiermasken hervor. Vom Alter zerfurchte Gesichter, Zahnlücken, stumpfe Blicke werden von der Kamera ganz nah herangeholt.

Das Bewahren der Schöpfung, so scheint es der Film nahezulegen, ist eine spirituelle Aufgabe, keine administrative. Sie verlangt vom Menschen, sich mit der Begrenztheit seiner Einsichten, seiner Produkte und seiner eigenen Existenz zu versöhnen. Für die Wiedergeburt einer wirklich jungen Menschheit findet Landau so die stärksten Bilder: Da zappelt ein Körper in seiner blutigen Fruchtblase; und zum Ende verpuppen sich Landaus Kindergreise auf ihrem Müllhaufen in Erwartung von Verwandlung und Neugeburt.

Stardirigent Jeffrey Tate: Liebesheirat im Freundeskreis

Die Musik bleibt im Duell mit diesen Bildern die Klügere - sie gibt meistens nach. Messiaens Klänge schmiegen sich verschiedenen Szenen an; zum Teil setzt Landau auf identische Passagen in der Musik komplett andere Bilder, und doch entsteht jedes Mal ein neuer emotionaler Gesamteindruck, aus dem sich keines der Elemente mehr isolieren lässt. Die schillernde Farbigkeit von Messiaens musikalischem Schöpfungshymnus löst sich in Landaus grau-blauer Bildwelt wie Salz im Wasser.

Schöpfung multimedial

Nur in ihren stärksten Momenten überstrahlen die Klänge die Projektoren. So gibt es bei Messiaen Dreiklänge, die aus dem dissonanzengeschärften Milieu mit einer solchen Intensität hervorleuchten, die so ungewohnt und erregend klingen, als wären sie neu geboren und nicht schon seit Jahrhunderten Grundbaustein unserer Musik.

Dass Dirigent Jeffrey Tate anfangs entsetzt war von der Vorstellung, Messiaens Meisterwerk mit fremden, zum Teil grotesken Bildern zu kombinieren, erscheint angesichts des Wagnisses verständlich. Und auch die anderen Beteiligten sind wohl über ihren Schatten gesprungen. Francesco Tristano, der Pianist des Abends, hat eingestanden, dass Messiaen nicht seine Welt sei. Und den Musikern der Symphoniker wurde von der immens schwierigen Partitur etwas abverlangt, das eher Sache von Spezialistenensembles ist. Doch das musikalische Ergebnis war über jeden Zweifel erhaben. Hier ist in kollektiver Anstrengung und Überwindung ein Kunstwerk gelungen, das nun unter den üblichen Abonnementkonzerten einsam und rätselhaft dasteht, wie eine Parkbank mitten in der Wüste.

Das Publikum applaudierte begeistert und war gleichwohl schneller bei den Garderoben als die Musiker von der Bühne. Denn es war auch ein anstrengender Abend, keine Frage. Ein Abend, der tiefe Eindrücke hinterlassen hat: Hohlräume und Lehrstellen, die nachdenkend und nachfühlend ausgefüllt sein wollen.