“Lesen ist sexy“ ist das Fazit des Harbour Front Literaturfestivals. Für den Chinesen Liao Yiwu war es die Chance zur ersten Lesung in Freiheit.

Hamburg. Ob er etwa für den Lärm verantwortlich sei, dass deutliche vernehmbare Knacken in den Lautsprecherboxen, fragte Günter Grass, und da nestelte ein Techniker schon an seinem Sakko herum. Das war braun an diesem Abschlussabend des zweiten Harbour Front Literaturfestivals in der Fischauktionshalle, aber das sollte man eigentlich gar nicht schreiben. Nebensächlichkeiten! So sagt es Grass, der Literaturnobelpreisträger und Wachrüttler, der sich, als die Technik streikte, gerade in eine schöne Erregung gesteigert hatte: Was alles falsch läuft in unserem Land, und wie unwichtig vielen das Politische ist, das doch das Eigentliche ist.

Schön war auch das zehntägige Festival, es zeigte, dass Lesen gesellschaftliche Relevanz hat, sexy ist, ein gemeinschaftliches Erlebnis sein kann und auch die Schachtelsätze eines Günter Grass verträgt. Der hatte am letzten Tag des Harbour Front Festivals gleich zwei Veranstaltungen, auf denen er aus seinem neuen Buch "Grimms Wörter: Eine Liebeserklärung" las. Im Gespräch mit Literaturkritiker Denis Scheck erklärte der bald 83-jährige Grass, dass die deutsche Sprache der Grund sei, warum "ich, der ich in den vergangenen beiden Jahrzehnten viele Kampagnen infolge neuer Bücher von mir ertragen musste, nie ausgewandert bin". So ist das aktuelle Buch des Meisters wohl wirklich eine existenzialistische Angelegenheit. Ungleich bedrohlicher sind im Vergleich die Lebenskämpfe des chinesischen Autors Liao Yiwu, der lange Zeit eingesperrt war in seinem Heimatland, weil er einmal ein Gedicht geschrieben hatte, das den Herrschenden nicht passte. Die Ohnmacht der Literatur zeigte sich nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Liaos Werke sind bis heute verboten, und es ist der 15. Versuch, der nun endlich erfolgreich war. Liao ist in Hamburg, eingeladen von Harbour Front, dem Literaturhaus und dem Hamburger Abendblatt. Er gibt Interviews, und er liest erstmals im Ausland an diesem regnerischen Freitagabend. Aber was heißt, er liest ... Als erstes singt der 52-Jährige, der sich (sicherheitshalber) als "einen dummen Bauern, der nichts weiß" bezeichnet, ein traditionelles Lied und versetzt den mit 350 Menschen voll besetzten Raum unter dem Glasdach des Museums für Hamburgische Geschichte in schwebende Schwingung mit seiner Klangschale, die aus dem tibetischen Buddhismus kommt und mit einem Holzklöppel gestrichen wird. Später spielt er noch Xiao, eine Bambusflöte.

Dann wurde aus seinem Interviewbuch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten" gelesen, schließlich erzählte Liao vom Unterschied zwischen dem tollen, offiziellen Boom-China und dem wirklichen, das nicht demokratisch ist und ein scharfes Auge auf abweichende Meinungen hat.

Liao Yiwu weiß nicht, ob auch weiterhin frei reisen darf, aber er weiß, was er westlichen Autoren zu verdanken hat, die er in seiner Heimat China lesen konnte. Er habe Freiheit erfahren durch das Bücherlesen, sagt Liao. Einer der Autoren, die er in China las, war Günter Grass. Er traf ihn bei der Abschlussveranstaltung des Festivals am Sonnabend, beide hatten Tränen in den Augen. Da schloss sich für beide ein Kreis.