Er war süchtig nach Neuem und ein Kulturmanager par excellence. Vor 100 Jahren wurde der legendäre Intendant Rolf Liebermann geboren.

Hamburg. Sein Vorstellungsgespräch beim Aufsichtsrat der Hamburgischen Staatsoper am 22. August 1958 war im Handumdrehen erledigt. Nach fünf Minuten war alles in trockenen Tüchern. Rolf Liebermann, der bis dahin noch nie ein Opernhaus geleitet hatte, sicherte sich den Intendantenposten mit einer entwaffnend unehrgeizigen Ansage: "Was sind schon Konzeptionen? Es kann doch nur die Praxis etwas zeigen. Ich habe Ihnen wirklich nichts zu sagen."

Das war der Beginn einer Ära, die dem Haus eine einmalige Blütezeit und historische Größe bescherte. Die erste Amtszeit begann 1959 und endete 1973. 1967 schrieb die "New York Times" erstaunt und begeistert über ein Gastspiel: "Wir wissen jetzt, dass es Besseres gibt als die Met." Das waren noch Glanzzeiten, damals. Nach einem ebenso erfolgreichen Intermezzo, bei dem er die Pariser Oper erfolgreich entstaubte, folgte von 1985 bis 1988 ein Comeback an der Elbe. Am 2. Januar 1999 starb Liebermann in seiner Wahlheimat Paris. Sein letztes Stück "Mouvance" (Bewegung) wurde dort zwei Monate vor seinem Tod uraufgeführt. "Ich habe immer meine Utopien gelebt", sagte er einmal im Rückblick über sein langes Künstlerleben.

Die Hamburger Bilanz des dramaturgischen Muts jenseits des Standardrepertoires ist beispiellos beeindruckend: Unter Liebermanns Leitung wurden hier 28 Opern und Ballette uraufgeführt, 21 der 22 Opern waren Auftragsarbeiten, darunter Stücke von Henze ("Der Prinz von Homburg"), Kagel, Penderecki oder Schuller. Liebermann, ein Kulturmanager par excellence, war süchtig nach Neuem und sorgte dafür, dass diese Sucht sein Publikum ansteckte. 1998 erklärte er: "Das Einzige, das ein Haus erhält, ist die Uraufführung. Das kann schiefgehen, die Leute sollen pfeifen, das macht gar nichts. Nur Spannung hält ein Haus am Leben."

In der Hamburger Kulturszene war der Schweizer aus gutem Hause, am 14. September 1910 in Zürich geboren, schon vor seinem flott inszenierten Amtsantritt an der Dammtorstraße kein Unbekannter. Er hatte als Leiter der Hauptabteilung Musik beim NDR bereits viel von und über sich hören lassen. Den Weg nach Norden geebnet hatte ihm Hans Schmidt-Isserstedt, Gründer und Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters.

Der Großneffe des Malers Max Liebermann hatte zunächst Jura studiert, dann aber sein Herz ans Komponieren und Dirigieren verloren - und zeitweilig wohl auch an eine junge Sängerin namens Lieselotte Wilke, für deren Café-Auftritte in Zürich er Texte von Tucholsky, Brecht und Ringelnatz vertonte, und die später als Lale Andersen groß herauskam.

Aus dem Hamburger Funkhaus kommend, erfüllte Liebermann seinen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag auch an der Staatsoper radikal und einfallsreich mit einer Liebenswürdigkeit, die mitunter an Hinterlist grenzte und im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer wieder Politiker aller Härtegrade geschickt schachmatt setzte. Vom damaligen Finanzsenator Herbert Weichmann ist ein vielsagender Stoßseufzer über Liebermann erhalten: "Ich will ihn nicht sehen, das kostet mich nur Geld." Was oft stimmte, aber der Stadt noch viel öfter eine Menge erstklassiges Renommee einbrachte.

Auch die NDR-Avantgarde-Reihe "das neue werk" hat Liebermann ihre internationale Reputation zu verdanken, er hat sich ebenso konsequent für den Jazz starkgemacht und als Podium für beides das dritte Hörfunkprogramm auf Sendung gebracht. Liebermann war stilübergreifend neugierig und begeisterungseifrig. Ein Überzeugungsermöglicher war er, nach wie vor unerreicht. Um seinen Stammplatz als Hausherr (Reihe 1 rechts, Platz 3) behalten zu können, gewöhnte sich der Prinzipal sogar das Rauchen ab, nachdem sich Abonnenten über sein Nikotinhüsteln beschwert hatten. Der Kunde war nun mal König, jeder einzelne, jeden Abend, an dem der Vorhang hochging und das Spiel begann.

Liebermann hatte ein legendäres Händchen für Talente und ein Gespür für konzeptionelles Timing. Er stellte sich ein Ensemble zusammen, das er hegte und pflegte, weil er wusste, dass Opernhäuser den polierten Premiereneindruck mit mittelprächtigen Repertoireabenden schnell verderben können. Einer, der Liebermanns Vertrauen und Freundschaft nie vergessen sollte, war ein junger Tenor namens Plácido Domingo. Für den Fußballfanatiker verlegte Liebermann während der WM 1974 sogar eine "Aida"-Vorstellung vor, damit Domingo rechtzeitig im Stadion sein konnte. Gesangliche Kulinarik war Liebermann aber zu wenig. Er wollte Inszenierungen mit Aussagekraft. Anecken - aber nicht zum Selbstzweck - war da durchaus willkommen. Eine seiner pfiffig formulierten Thesen: Die Ansprüche der konservativen Mehrheit müssen berücksichtigt werden, ohne der Minderheit vorzuenthalten, was die Masse nicht zu sehen wünscht.

Gemeinsam mit Herbert Paris, der fürs Kaufmännische zuständig war, war Liebermann unermüdlich mit dem Klingelbeutel in der Stadt unterwegs, um als "Dammtor Brothers" immer neue Geldquellen, staatliche wie private, für die Staatsoper zu erschließen und möglichst kräftig sprudeln zu lassen. Noch heute profitiert das Haus buchstäblich von der 1960 gegründeten Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper. Dadurch waren damals Projekte möglich, von denen man heutzutage nur noch träumen kann: Fast drei Dutzend Gastspiele beispielsweise oder der Luxus, gut ein Dutzend Produktionen fernsehgerecht aufzuzeichnen. 1962 schaffte Liebermann es sogar, mit viel internationaler Strippenzieherei hinter den Kulissen der Weltpolitik den Komponisten Igor Strawinsky für eine Feier zu dessen 80. Geburtstag nach Hamburg zu lotsen.

Nachdem er den Köderangeboten der Wiener Staatsoper und der New Yorker Met widerstanden hatte, biss Liebermann an, als die Offerte aus Paris kam. Weniger aus eitlem Ehrgeiz, sondern weil er dem "reaktionären Publikum" dort zeigen wollte, was eine Musiktheater-Harke sein kann. Zum Abschied dort erfüllte Messiaen seinem Freund mit "Saint François d'Assise" den Wunsch nach einer Oper.

Nachdem es in den frühen 80ern auf der Chefetage des Hamburger Opernhauses zwischen Intendant Kurt Horres und GMD Hans Zender gekracht hatte, kehrte Liebermann 1985 mit 74 zurück auf den Hamburger Chefstuhl.

Erst jenseits regulärer Pensionsgrenzen fand Liebermann nach längeren Pausen auch wieder genügend Zeit für seine zweite große Leidenschaft, das Komponieren. 1988 verabschiedete er sich mit der Jazzoper "Cosmopolitan Greetings" von Hamburg: Bühne und Regie stammten von Robert Wilson, die Texte vom Beatpoeten Allen Ginsberg. Sieben Jahre später wurde Liebermanns fünfte Oper "Freispruch für Medea" an seiner alten Wirkungsstätte uraufgeführt. Liebermann nahm dafür ein letztes Mal Platz im Parkett. Reihe 1 rechts, Platz 3, wo sonst.

Konzert: "Abend für Rolf Liebermann", 4. September, 18 Uhr, Staatsoper. Mitwirkende: Mitglieder des Opern-Ensembles, NDR Bigband, Annett Louisan, George Gruntz, Peter Ruzicka u. a. Karten unter T. 35 68 68.

TV-Termine: "Rolf Liebermann - Musiker", 3sat, 18./22. September, jeweils 21 Uhr, NDR 12./19. September, jeweils 8 Uhr. 13. September, ab 0.30 Uhr: "Die Nacht für Rolf Liebermann"

Buch: Gisa Aurbek, Hamburger Köpfe: Rolf Liebermann, Ellert & Richter, 136 Seiten, 14,90 Euro