Der Auftakt der ersten bundesweiten Privattheatertage zeigt: Auch in der Provinz wird starke Gegenwartsdramatik geboten.

Hamburg. Frisch, jugendlich und pinkfarben. So wie der Einband des Programmhefts, geben sich auch die ersten bundesweiten Privattheatertage am Eröffnungswochenende. Statt der erwartbaren Boulevardkomödien gibt es Gegenwartsstoffe - nicht unbedingt leichte Kost. Und angereist aus Orten fernab der bekannten Theatermetropolen, nämlich aus Göttingen und - das hat man auf der inneren Landkarte nicht sofort parat - aus Rottweil.

Aber nicht auf die Herkunft, auf die Stoffe und Inszenierungen kommt es an. Und gute Geschichten haben bekanntlich keine Halbwertszeit. Fatih Akins filmisches Meisterwerk "Gegen die Wand" ist längst ein moderner Klassiker. Einen besseren Auftakt als mit der Drehbuchadaption des Filmstoffs hätte man zum Festivalbeginn im Altonaer Theater kaum finden können.

Mit wenigen Requisiten, einem Sofa, einem Nebenraum mit Glasscheibe und einem Kühlschrank, entsteht auf der Bühne eine multiperspektivische Großstadtvorhölle. Die urbanen Versprechen sind so verlockend wie zwiespältig. Das Drama um Liebe und Freiheitssehnsucht setzt das neunköpfige Ensemble des Jungen Theaters Göttingen unter der Regie von Andreas Döring engagiert um - konzentriert auf die Schlüsselszenen und garniert mit viel nachtblauer Musik.

Aus dem Gesicht der wunderbaren Franziska Beate Reincke spricht die Verzweiflung der in Deutschland aufgewachsenen Türkin Sybel, die ihre Zukunft nur zwischen Selbstmord und Scheinehe sieht. Dabei will sie eigentlich tanzen, lieben - und Posaune spielen. In dem abgehalfterten Glasabräumer Cahit findet sie einen zunächst unwilligen Komplizen für die Flucht in die Ehe und eher ungeplant das ganz große Gefühl. Mit langer Mähne und Bart, wild flackerndem Blick und depressiver Haltung gibt Dirk Böther fast eine Kopie Birol Ünels aus der Verfilmung ab. Seine wenigen Sätze brüllt er. Ansonsten schweigt er. Seine wunde Seele legt er ganz in den Gesang zerrissener Klassiker aus den Annalen des Wave. "I Feel You" von Depeche Mode. "Temple Of Love" von den Sisters Of Mercy. Der kulturelle Zwiespalt, er tritt nicht nur im Text, sondern auch im Nebeneinander von westlichem und türkischem Pop auf. Deutsche Darsteller sprechen unfallfrei Türkisch und umgekehrt.

Der Ermöglicher

Privattheatertage-Premiere: Drama, Klassik und Komödie

Die dramaturgische Verschränkung in der musicalhaften Revue geht auf. Die Melodien befeuern die Emotionen und sorgen für Tiefenschärfe statt Verflachung. Vor allem Leon Schröder erweist sich als Verwandlungskünstler in seiner Doppelrolle als Sibels Macho-Bruder Yilmaz und eifersüchtiger Liebhaber mit Hip-Hop-Appeal, der zwischendurch in Strapsen elegant den Kontrabass schwingt. Den Mut der Inszenierung, konsequent das Scheitern der Liebe in einer feindlichen Welt vorzuführen, belohnt das Publikum mit wohlwollendem Applaus. Hinterher versenken bereits zahlreiche Besucher ihre Eintrittskarten in der Wahlurne für den Publikumspreis.

Nachdenklich stimmende gesellschaftliche Aktualität beherrscht auch den zweiten Abend. Das Zimmertheater aus Rottweil gastiert mit Philipp Löhles "Genannt Gospodin" in den Kammerspielen. Die Neugier des Publikums aufs "Theater aus der Provinz" scheint sich da noch etwas in Grenzen zu halten. Die Vorstellung ist nicht gerade gut besucht, dabei hätte sie durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient.

Regisseur Tonio Kleinknecht inszeniert die satirische Attacke auf den Kapitalismus als klare Versuchsanordnung. Der sich Besitz und Geld verweigernde Gospodin wird von den Mitspielern wie ein Studienobjekt auf den leeren "Labortisch" der Bühne gestellt. Sie führen den vom Autor konstruierten "Fall" wie ein Experiment vor, stellen ihn parallel als Theater im Theater aus. Dieser Regieeinfall erweist sich zugleich als Schwäche des rasch zu durchschauenden Stücks.

Arwid Klaws gibt seinem sanft störrischen Loser Gospodin etwas von der Zivilisations- und Weltfremdheit eines Kaspar Hauser in einer enthemmten Konsumgesellschaft, verkörpert durch aufgekratzt um ihn herumwirbelnde Episodenfiguren. Ana Schlaegel und Patrick Hellenbrand skizzieren die skurrilen Typen mit Spaß an der Verwandlung, zumeist an der Grenze zur Karikatur. Dennoch bleibt die farcenhafte Parabel flach, entfaltet nur zaghaft Witz und keinen richtigen Spannungsbogen. Die Regie hätte Rhythmuswechsel betonen und in der Darstellung den Gegensatz zwischen Erzähltheater und komödiantischen Spielszenen schärfer herausstreichen können. Auf Distanz zu bleiben, ist ein häufiges Missverständnis des brechtschen Konzepts. Dessen episches Theater wollte weg von der Scheinrealität, hier entspricht es dem Ansatz des Regisseurs, ein konstruiertes Fallbeispiel zu präsentieren.

Trotz der Einwände bietet die Aufführung ein mutiges Beispiel dafür, dass auch in der Provinz dem Publikum Gegenwartstheater geboten und - im besten Sinne - auch zugemutet wird. Schon am Eröffnungsabend ist vom Hamburger Bundestagsabgeordneten Rüdiger Kruse zu hören, dass der Bund bei absehbarem Erfolg das Festival auch über die einmalige Anschubfinanzierung hinaus unterstützen wolle. Das wäre auch eine tolle Anerkennung aktueller Dramatik. Doch abwarten. Die Spiele haben ja gerade erst begonnen.

Privattheatertage bis 10.6., heute: "Fettes Schwein" im Theater Haus im Park, Karten unter T. 29 90 58 70 und unter www.privattheatertage.de