Ratlosigkeit nach dem Tod eines 19-Jährigen am Jungfernstieg. Jugendrichter Olof Masch plädiert eindringlich für das Bergedorfer Modell.

Hamburg. Die Fragen, die sich viele Hamburger nach den Ereignissen in der Station Jungfernstieg stellen, können zu einem erheblichen Teil sehr wohl beantwortet werden. Natürlich muss man zunächst feststellen, dass es auf die Frage, warum ein 19-Jähriger in so einem völlig sinnlosen Geschehen sterben musste, keine Antwort gibt, schon gar keine befriedigende. Das ist und bleibt eine Katastrophe. Die allgemeine Ratlosigkeit danach (was tun mit gewalttätigen Jugendlichen?) kann ich aber keineswegs teilen. Es gibt sehr wohl Antworten, Versuche, es anders und besser zu machen, und Erfolg versprechende neue Ansätze.

+++ Polizei führte Elias schon sieben Monate als Intensivtäter +++

Die sattsam bekannten Politikersprüche, die eintönig die stets gleiche Melodie spielen (öfter, schneller, länger einsperren), kann man dabei gleich vergessen. Das ist Betroffenheitslyrik, die nur der Wählerberuhigung dient. Wir, die professionell mit dieser Gruppe junger Männer umgehen, sind schon zu intelligenteren Lösungen aufgerufen. Am Anfang steht eine saubere Analyse. Wie beim Arzt gibt es keine erfolgreiche Therapie ohne korrekte Diagnose. Wer sind diese jungen Gewalttäter, was unterscheidet sie von ihren friedlichen Altersgenossen, aus welchen sozialen, kulturellen, finanziellen Verhältnissen kommen sie?

Diese Fragen kann man nicht bauchgesteuert beantworten, sondern nur durch Faktensammeln. Nur so kommt man zu belastbaren Zahlen. Die Hamburger Justiz sammelt solche Zahlen nicht, schon gar nicht stadtteilbezogen. Aber im Bereich des Jugendgerichts Bergedorf wird seit 2005 eine solche Statistik geführt. Wer hat wann was getan? Alter, Herkunft, Wohnort des Täters, usw. Dabei wird auch der kulturelle Hintergrund abgefragt und zusätzlich die Frage, seit wann die Familie des Täters in Deutschland lebt. Damit sind wir beim Streitpunkt ,,Migrationshintergrund". Die polizeilichen Statistiken erfassen das nicht und benutzen noch immer das völlig nichtssagende Merkmal "Staatsangehörigkeit". Da wird der eben aus Kirgisien kommende Spätaussiedler (der kein Wort Deutsch spricht) als Deutscher geführt und Murat, für den Deutsch die Muttersprache ist und dessen Eltern schon in Hamburg geboren wurden, als Ausländer. Blödsinn.

+++ SO KRIMINELL IST IHR STADTTEIL +++

Schon die erste Bergedorfer Statistik offenbarte, was jeder wusste: Junge männliche Einwanderer sind überproportional an Straftaten, insbesondere Gewalttaten, beteiligt. Im Bergedorfer Ortsteil Allermöhe waren das vor allem Russlanddeutsche. Daraufhin hat die Hamburger Polizei eine Studie erstellt, aus der sich angeblich ergab, dass die Russlanddeutschen allgemein, aber auch die jungen Männer sogar weniger Straften begehen als ihre deutschen Altersgenossen. Dieser Unsinn ist längst widerlegt. Heute ist Standardwissen, dass junge Männer mit Migrationshintergrund häufiger an Gewalttaten beteiligt sind, als ihrem Bevölkerungsanteil (auch unter Berücksichtigung der Altersstrukturen) entspricht.

Da mag die GAL eine solche Statistik für ganz Hamburg (aus Angst vor dem Ergebnis?) auch verhindern, die Zahlen geben es wieder: Von den 2009 von der Staatsanwaltschaft beim Jugendgericht Bergedorf angeklagten Gewalttätern hatten die meisten einen Migrationshintergrund, bei den besonders gravierenden Körperverletzungen sogar über 70 Prozent. Die größte Gruppe sind die Russland- und Polendeutschen, etwa ein Drittel stammt aus Familien islamischen Glaubens. Genau das ist die Klientel, auf die wir uns konzentrieren müssen, wenn wir messbare Erfolge, also weniger Opfer, erreichen wollen.

Was machen wir nun mit diesen jungen Männern? Die unbefriedigenden Ergebnisse der bisherigen Hamburger Bemühungen zeigen, dass der Einsatz von vor allem polizeilichen Mitteln und die begrenzten Möglichkeiten der Jugendgerichte allein die Lösung wohl nicht sind. Das Zehn-Säulen-Modell des Hamburger Senats ist viel zu polizeilastig, auch wenn es sinnvolle präventive Elemente enthält. Da ist die Handschrift der sehr repressiv denkenden Ex-Senatoren Schill, Kusch und Nagel unverkennbar. In Hamburg wird Jugendrecht als Strafrecht light betrieben, das erst bei der Rechtsfolge eigene Wege beschreitet.

Wir begleiten die Gewalttäter mehr, als dass wir ihnen entgegentreten. Die Strafverfahren lassen sich nur begrenzt beschleunigen, wie gerade die spektakulären Fälle aus Hamburg und München gezeigt haben. Da sind immer sechs bis sieben Monate zwischen Tat und Verhandlung verstrichen, obwohl bestimmt kein Beteiligter getrödelt hat. Rechtsstaatliche Garantien (rechtliches Gehör, Recht auf einen Anwalt, Akteneinsicht pp.), die wir nicht aufgeben wollen, verhindern schnelleres Vorgehen. Das allein würde die Lösung auch nicht bringen, weil die Möglichkeiten des Jugendrechts für sich genommen nicht ausreichen, jugendliche Intensivtäter von ihrem verhängnisvollen Weg abzubringen. Wir müssen das Problem noch einmal ganz neu denken und die ausgetretenen Pfade verlassen.

Das Problem sind sehr junge männliche Jugendliche, die leicht gewalttätig werden. Wir wollen Einfluss auf sie nehmen, um ihr Verhalten dauerhaft zu verändern. Das ist ein Erziehungsproblem. Wer ist für die Erziehung von Jugendlichen verantwortlich? Nach unserer Verfassung in erster Linie die Familie, und zwar auch dann, wenn sie unvollständig oder zerbrochen ist. Also müssen wir uns um die Familien kümmern in einem systemischen und ganzheitlichen Ansatz. Die Entwicklung eines Kindes zum Intensivtäter stellt immer auch eine Kindeswohlgefährdung dar. Das ist unter Familienrechtlern unstreitig.

Diese Sicht der Dinge führt zu einem neuen Ansatz: der Personalunion von Jugend- und Familienrichter. Beide Sichtweisen ergänzen einander: Das Jugendrecht nimmt den Jugendlichen selbst in den Fokus, das Familienrecht beschäftigt sich mit den Eltern. Erst so befasst sich das Gericht mit der ganzen Familie. Nimmt der Richter beide Möglichkeiten in die Hand, so eröffnen sich ihm zahlreiche Perspektiven (die hier nicht annähernd komplett dargestellt werden können): Im Bereich des Familienrechts kann er binnen weniger Tage mit einstweiligen Anordnungen Fakten schaffen (Betreuer installieren, fehlende Hilfeanträge ersetzen, Teile der elterlichen Sorge abweichend regeln).

Solche Eilentscheidungen wirken sofort, auch wenn sie angefochten werden. Demgegenüber gilt für das schwerfällige Jugendrecht der Satz eines erfahrenen Münchner Jugendrichters: Wenn meine Arrest-Entscheidung angefochten wird, kann ich sie gleich ganz vergessen. Der Lösungsansatz ist: sofort, binnen weniger Tage nach der Tat Eingreifen des Jugend- und Familienrichters gegenüber dem Täter und gegenüber seiner Familie.

Beispielhafter Ablauf: Innerhalb kurzer Zeit begeht ein 15-Jähriger das zweite "Abziehdelikt", also Raub. Die Polizei schickt per Fax (oder Mail) die Anzeige und das erste Vernehmungsprotokoll an den Staatsanwalt und das Familiengericht. Der Staatsanwalt schickt eine Vorabmeldung an den Jugendrichter, er beabsichtige, bei ihm Anklage zu erheben. Daraufhin setzt der Jugend- und Familienrichter Verhandlungstermine fest: Im Jugendrecht mit dem Beschuldigten, den Eltern und der Jugendgerichtshilfe und im Familienrecht mit dem Jugendlichen, den Eltern und dem Jugendamt. Das kann beides binnen 14 Tagen geschehen.

Auf diese Weise erhält ein junger Intensivtäter innerhalb kürzester Zeit nach der Tat ein Stopp-Zeichen und weiß, dass seine Eltern Kenntnis von seinem Verhalten haben und in die Entscheidungsprozesse eingebunden sind (von nicht zu überschätzender Bedeutung!). Viele Termine vor dem Familiengericht werden erfahrungsgemäß auch von Eltern, die man in Strafverhandlungen gegen ihre Söhne selten oder nie sieht, wahrgenommen. Außerdem stehen dort regelmäßig Profi-Dolmetscher zur Verfügung (und nicht die Kinder), sodass die Eltern ausreichend zu Wort kommen und alles verstehen.

Aus dieser Grundidee ist seit 2006 nach und nach das "Bergedorfer Modell" geworden, das mittlerweile recht ausdifferenziert worden ist. Das Gericht ist zeitgleich auf drei Ebenen tätig: als Jugendgericht bzgl. der Straftat, als Familiengericht mit Hilfestellungen an die Familie und in Bußgeldverfahren hinsichtlich des Schuleschwänzens, das bei praktisch allen Intensivtätern die Regel ist. Auf diese Weise hat der Jugendliche innerhalb weniger Monate diverse Verhandlungen, in denen die jeweils beschlossenen Vorgehensweisen überprüft, nachgesteuert und verbessert werden. Lange bevor die strafrechtliche Hauptverhandlung stattfindet.

Dieses Modell ist im Bergedorfer Jugendhilfeausschuss vor langer Zeit vorgestellt worden. Parteiübergreifend haben alle Bezirkspolitiker eine Einführung befürwortet. Leider aber haben sich weder die schwarzen noch die grünen Regionalpolitiker bei ihren Parteigenossen im Hamburger Rathaus durchsetzen können. Wahrend in Bergedorf allgemein Zustimmung herrscht, verweigern die Hamburger Behörden weitgehend ihre Mitarbeit. Insbesondere Innen- und Justizbehörde blockieren das Modell.

Auch ein Gespräch mit Herrn Dr. Steffen half nicht. Im Februar 2009 hat der grüne (!) Justizsenator nach Vorstellung des Modells unmissverständlich und ohne Diskussion erklärt, davon werde in Hamburg nichts umgesetzt. Die Innenbehörde hat durch Verbote gegenüber der Polizei sogar verhindert, dass Messerverbote in Bergedorfer Bewährungsbeschlüssen (Auflage, außerhalb der Wohnung kein Messer bei sich zu führen, Verstoß führt über Bewährungswiderruf ins Gefängnis) der Polizei, zum Beispiel auf dem Kiez, bekannt werden. Daraufhin ist diese Maßnahme, die Messerattacken vorbeugen sollte, wieder gestrichen worden. Wegen Verweigerung von Staatsanwaltschaft und Polizei kann das Modell praktisch nicht wie oben skizziert umgesetzt werden. Wir fahren gewissermaßen mit angezogener Handbremse.

Aber was bringt der neue Bergedorfer Weg denn überhaupt? Die Statistik ist brisant: Nachdem sich das Verfahren in den letzten Jahren (auf kleiner Flamme) eingespielt hat, zeigen die Fallzahlen deutlich nach unten. Im Jahr 2009 gab es in Bergedorf im Vergleich zu 2008 bei allen Straftätern zwischen 14 und 21 Jahren ein Minus von 15 Prozent. Bei den Gewalttaten sah es noch besser aus: minus 20 Prozent. Also gab es 2009 auch 20 Prozent weniger Gewalttäter als 2008. Das ist umso bemerkenswerter, als dass es sich hier um die Stadtteile Allermöhe-Ost und -West, Bergedorf-West und Lohbrügge handelt. Allermöhe war einer der Kriminalitätsschwerpunkte in Hamburg. Deswegen hatte die Polizei den Stadtteil zum Gefahrengebiet erklärt und eine Präsenzgruppe eingerichtet, also mehr Polizeibeamte hingeschickt. Beides ist Ende 2009 gestrichen worden. Argument: Das geben die Zahlen nicht mehr her. Kommentar eines Allermöher Polizeibeamten: Wenn das mit den Fallzahlen so weitergeht, heißt es hier demnächst Bad Allermöhe.

Wo in Deutschland gibt es einen solchen Rückgang von Jugendgewalt innerhalb nur eines Jahres? Woran liegt dieser überaus erfreuliche Rückgang von Gewalt? Ist der Stadtteil anders geworden? Haben sich Bevölkerung, Altersstruktur, soziale Zusammensetzung oder die Hartz-IV-Sätze verändert? Wohl eher nicht. Ist es also am Ende dem Bergedorfer Modell zu verdanken? Warum versuchen wir es nicht endlich mit einem richtigen Modell? Mit Staatsanwaltschaft und Polizei. Warum stimmt die Politik so einem Versuch nicht zu? Niemand kann behaupten, wir seien gegenüber gewalttätigen Jugendlichen rat- und hilflos. Es gibt Ideen, Modelle und sehr viel versprechende Versuche. Was fehlt, ist der politische Wille zur Umsetzung.