Das Gericht hebt den Haftbefehl im “20-Cent-Fall“ gegen die 17-Jährigen Täter auf. Die Mutter des Getöteten erhebt schwere Vorwürfe.

Hamburg. Plötzlich war der Schmerz wieder da, Beruhigungstabletten hatten ihn lange in Schach gehalten. Bis Mittwoch, als sie im Abendblatt las, dass die beiden Jugendlichen, die ihren Sohn getötet haben sollen, aus der U-Haft entlassen worden sind. Niemand hatte sie vorgewarnt. Vera J. hatte lange nicht geweint. Am Mittwoch hielt sie es nicht mehr aus. Doch in die Trauer mischte sich schnell blanke Wut. Wut auf das Landgericht, auf die Große Strafkammer 27, wo gegen Onur K. und Berhan I. - beide 17, beide mehrfach vorbestraft - aktuell verhandelt wird. "Ich bin maßlos enttäuscht", sagt Vera J. "dass das Gericht derart geschlampt hat."

Die Kammer hatte die Hauptverhandlung ausgesetzt, weil eine Beisitzende Richterin wegen des Vulkanasche-Flugverbots in Spanien festsaß und nach eigenen Angaben nicht zeitig zur Fortsetzung des Prozesses erscheinen konnte. Wie aus einer kleinen Senatsanfrage der SPD hervorgeht, hat die Richterin viel versucht, um es doch rechtzeitig nach Hamburg zu schaffen. Sogar eine Taxifahrt von Spanien aus hatte die Kammer erwogen, die Idee aber als wenig praktikabel zurückgewiesen. Am 22. April platzte die erste, zu lang unterbrochene Verhandlung - der Fall musste neu aufgerollt werden.

Auf der alten Terminliste war noch der 3. Mai übrig. An diesem Tag hätte die Kammer neu verhandeln können. Stattdessen terminierte sie aber den 25. Mai, obwohl sich die maximal zulässige Untersuchungshaftdauer der Angeklagten ihrem Ende näherte und hier das Primat eines beschleunigten Verfahrens gilt. Nur in Ausnahmefällen erlaubt die Strafprozessordnung, Paragraf 121, mehr als sechs Monate U-Haft. Etwa dann, wenn Ermittlungen besonders umfangreich sind. Oder ein "wichtiger Grund" vorliegt. Den sah das Oberlandesgericht (OLG) hier nicht. Wie auch? Offenbar hatte die Kammer ihre Motive für die späte Terminierung weder in den Gerichtsakten noch gegenüber dem OLG dargelegt. Erst gestern klärte die Justiz-Pressestelle auf: Eine Richterin habe schon vor der ersten Hauptverhandlung ihren Urlaub im Mai fest eingeplant. "Am 3. Mai zu beginnen, wo nur die Anklageschrift verlesen worden wäre, erschien der Kammer nicht sinnvoll. Sie wollte am 25. Mai beginnen und die Hauptverhandlung am Stück durchführen", sagt Justizsprecher Conrad Müller-Horn. "Nach dortiger Sicht war die Verzögerung von drei Wochen bei Fortdauer der Haft vertretbar."

+++ SO KRIMINELL IST IHR STADTTEIL +++

Dabei hätte den Berufsrichtern das Risiko einer Freisetzung der Angeklagten klar sein müssen, sagt Strafrechtsprofessor Bernd-Rüdeger Sonnen. "Das OLG hat korrekt entschieden, der Gesetzgeber sieht nun mal kaum Spielraum für Verzögerungen." Für den SPD-Innenexperten Andreas Dressel verstärkt der Fall indes einmal mehr die Ressentiments gegen die Jugendgerichtsbarkeit. "Da fühlen sich all jene bestätigt, die der Justiz ohnehin vorwerfen, sie agiere bei jungen Straftätern zu lasch und zu langsam."

Seit der Haftbefehl aufgehoben ist, dürfen Onur K. und Berhan I. wieder frei durch Hamburg spazieren - ohne Auflagen zu unterliegen, ohne einer Meldepflicht nachkommen zu müssen. Nach Abendblatt-Informationen hat die Polizei die zwei Angeklagten indes fest im Blick. Für Vera J. ist es das Mindeste. Da sei diese Angst, sagt sie unter Tränen. Die Angst, dass sie Onur K. oder Berhan I. auf der offenen Straße begegnet. "Die gehören unter Aufsicht, was haben wir für eine Kuscheljustiz?"

Die Rentnerin wird vom Opfer-Verein Weißer Ring betreut. "Empörend", findet es Kristina Erichsen-Kruse, Vizechefin des Hamburger Landesbüros, dass die Täter frei herumlaufen. Uwe Koßel, Landeschef der Polizeigewerkschaft GdP, nennt die Freisetzung "frustrierend". "Es ist ärgerlich, wenn die Polizei die Täter fasst und die Gerichte sie wieder laufen lassen."

Gerade in diesem Fall. Im September hatte die Polizei Onur K. und Berhan I. nach wochenlanger Ermittlungsarbeit gefasst. Thomas J., 44, war den beiden am 12. Juni in einem Fußgängertunnel am Bahnhof Harburg zufällig über den Weg gelaufen. Sie sollen ihn erst um 20 Cent angebettelt haben. Als er ablehnte, sollen sie ihn geschlagen und auf seinen Kopf eingetreten haben. Vier Wochen später starb der Dachdecker aus Winsen.

Von Beginn an hat Vera J. die Jungen, die nicht mal halb so alt sind wie ihr toter Sohn, im Gerichtssaal studiert. Hat registriert, wie der eine mal gelangweilt in einem Heft blätterte, während sich der andere wie unbeteiligt auf der Anklagebank rekelte. Vera J. hätte alles getan, um den Prozess zeitig fortzusetzen. Um ihn rasch zu beenden, um nur diesen Anblick nicht mehr ertragen zu müssen, sagt sie. "Da ist nur noch Hass."