Unbekannter lässt leere Sporttasche im Sommer auf Bahnsteig zurück. Polizei ermittelt seit Monaten. Jetzt geht sie an die Öffentlichkeit.

Hamburg. War er einfach nur vergesslich? Oder ein Nachahmungstäter, der Chaos im Nahverkehr auslösen wollte? Oder gar ein Islamist, der vor einem möglichen Anschlag einen Testlauf startete? Die Polizei fahndet jedenfalls mit Nachdruck nach einem Mann, der auf einem Pinneberger Bahnhof eine Tasche ohne Inhalt zurückließ. Was ihm die Fahnder genau vorwerfen, dazu schweigt die Polizei. In Zeiten von Anschlagswarnungen im Zusammenhang mit Islamisten zeigt der Fall die Unsicherheit der Behörden, die keine Panik schüren wollen.

Es ist Dienstag, 7. Juli. Ein knapp 30-Jähriger mit dem markanten Basekap läuft auf den Bahnsteig des Bahnhofs Thesdorf in Pinneberg, stellt seine schwarze Sporttasche neben sich auf den Boden und steigt dann in die abfahrbereite S-Bahn nach Harburg. Die Tasche aber lässt er auf dem kleinen Bahnhof zurück, was, nachdem ein Passant sie entdeckt, zu stundenlangen Strecken- und Bahnhofssperrungen führt. Die Tasche wird von Sprengstoffspezialisten geröntgt. Nach fast drei Stunden ist klar: Sie ist leer.

Vier Monate nach dem Einsatz auf dem Regional-Bahnhof sucht die Polizei noch immer nach dem Besitzer der Sporttasche und nach Antworten auf die Fragen: Hat er die Tasche beim Einsteigen gedankenverloren vergessen? Oder hat er sie bewusst stehen gelassen? Mit einem richterlichen Beschluss im Rücken, fahndet das schleswig-holsteinische Landeskriminalamt jetzt mit Bilden aus der Videoüberwachung des Bahnhofs nach dem 30-Jährigen. Eine ungewöhnlich drastische Form der Suche, da die Persönlichkeitsrechte des Mannes von der Öffentlichkeitsfahndung berührt werden, was normalerweise nur bei schweren Straftaten in Kauf genommen wird.

Die offizielle Ermittlungsakte ist mit "Störung des öffentlichen Friedens durch Androhen von Straftaten" überschrieben. Doch das LKA tut sich schwer zu erklären, welcher Straftaten der Gesuchte verdächtigt wird. War es ein Nachahmungstäter, der die angespannte Sicherheitslage mit Anschlagsdrohungen ausnutzt, um Chaos auszulösen? Oder sogar um den Späher einer terroristischen Vereinigung, der die Sicherheitsvorkehrungen testen wollte? "Es kann eine normale Fundsache sein", sagt Stefan Jung, Sprecher des LKA, vorsichtig. "Wir wollen nur mal mit ihm sprechen." Auf jeden Fall habe die Tasche eine Störung des öffentlichen Friedens verursacht, so Jung.

"Der Bahnhof wurde gesperrt, da angenommen werden musste, dass von der Tasche eine Bedrohungslage ausgehen könnte." Immerhin: "Wir schließen nicht aus, dass die Person schauen wollte, was passiert", sagt Jung. Wer Hinweise zu dem Verdächtigen geben kann, meldet sich bitte bei der Polizei unter 0431 160 55 66.

Um die Bedrohung durch Anschläge von islamistischen Terroristen ging es auch beim gestrigen Wirtschaftsschutztag des Landesamts für Verfassungsschutz. Amtsleiter Heino Vahldieck hatte Unternehmer in die Handelskammer geladen, um über die aktuelle Bedrohungslage, die Auswirkungen auf die Wirtschaft sowie Gegenmaßnahmen des Landesamts zu informieren. Manfred Murck, stellvertretender Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes, wies erneut darauf hin, dass es in Deutschland seit dem Sommer eine erhöhte Gefährdungslage durch den islamistischen Terrorismus gebe. So müsse mit Anschlägen gegen deutsche Interessen und Einrichtungen zu rechnen sein. Diese Einschätzung ist laut Murck mit der im Zusammenhang mit der Bundestagswahl aufgetauchten Videobotschaft konkreter geworden. Damals ließ der Bonner Islamist Bekkay Harrach, der sich Abu Talha nennt, wissen: "Entscheidet das Volk sich für eine Fortsetzung des Krieges, hat es sein eigenes Urteil gefällt. Die Bundestagswahl ist die einzige Möglichkeit des Volkes, die Politik des Landes zu gestalten." Seit Anfang dieses Jahres sind in Deutschland 20 derartiger Video- und Audiobotschaften aufgetaucht. Murck: "Das hat man in diesem Ausmaß noch nicht erlebt." Bislang jedoch haben die Sicherheitsbehörden keine Hinweise auf konkrete Anschlagsdrohungen.

Seit Anfang der 90er-Jahre haben die Verfassungsschützer deutschlandweit 185 Islamisten registriert, die zu sogenannten Terrorcamps aus Deutschland ausgereist sind. 90 dieser Personen sind wieder im Land, 15 befinden sich in Haft. Von 30 Islamisten aus Deutschland wissen die Fahnder, dass sie an Kampfhandlungen teilgenommen haben.

Zuletzt hatten elf Hamburger Islamisten für Schlagzeilen gesorgt, die Anfang des Jahres in ein pakistanisches Ausbildungslager gereist sind. Lediglich zwei deutsche Konvertiten sind wieder in die Hansestadt zurückgekehrt. Sie waren in Pakistan festgenommen worden, weil sie keine Visa hatten. Das Duo gehört zu einer rund 50 Mann starken Gruppe von Radikalen in der Stadt. Diese vom Verfassungsschutz "Dschihadisten" genannten gewaltbereiten Männer werden bereits seit Jahren beobachtet. Sie bilden die extremste Form des Islamismus. Deren Zahl wird in Hamburg auf rund 2000 geschätzt. Während sich diese für die Errichtung eines islamistischen Staates einsetzen, befürworten und finanzieren Dschihadisten den sogenannten Heiligen Krieg.

Der Umgang mit Dschihadisten ist kompliziert. Hamburg hat seit 2003 15 dieser Extremisten ausgewiesen. Zwar müssen die Ermittler diese dann nicht mehr beobachten. Andererseits entledigen sich die Sicherheitsbehörden damit der Möglichkeit zu kontrollieren, welchen Aktivitäten die Dschihadisten nachgehen.