Beim Landesparteitag der Hamburger Piratenpartei wurde Anne Alter, Journalistin, zur neuen Vorsitzenden gewählt - und der Politbetrieb geübt.

Eidelstedt. Und plötzlich fällt die Fahne der Partei. Eben noch hing sie groß und leuchtend orange über der Bühne, nun aber hat sich eine Ecke gelöst, der Stoff hängt herunter, und die Hamburger Piraten tun sich mächtig schwer damit, ihn wieder korrekt herzurichten. "Wir brauchen eine Leiter!", ruft von vorne einer. "Hat zufällig jemand eine Leiter dabei?"

Natürlich sind auch sofort die Kameras angegangen, Fotoapparate haben geblitzt. Es ist ein Bild, wie es dieser Tage häufig vermittelt wird: Die Piraten und ihre Verwirrung angesichts der Tücken, die die große Bühne der Politik plötzlich so zu bieten hat. Seit sie in Berlin fast neun Prozent der Stimmen erhalten haben, schauen auch die Hamburger gespannt auf die Polit-Exoten. 150 neue Mitglieder hat die Partei hier in den vergangenen vier Wochen gewonnen, jetzt sind es mehr als 500 in der Hansestadt. Viel weiß man nicht von ihrem Programm. Anders sind die Piraten, nicht etabliert, ein bisschen unbeholfen vielleicht, sympathisch. Aber noch immer gelten sie vielen als Ein-Themen-Partei. Sie wollen Freiheit Netz. Was wollen sie noch?

Es ist Landesparteitag, fast 100 Leute passen in den Raum im Eidelstedter Bürgerhaus. Viele der Anwesenden sind jünger als 40, man duzt sich konsequent. Es gibt Zottelbärte zu sehen, wenige Frauen und einen Anzugträger, viele balancieren einen Laptop auf ihren Knien. Stimmengewirr liegt in der Luft, immer wieder ist das Wort "Berlin" zu hören. Die Hamburger Piraten wissen, dass das Interesse an ihnen gestiegen ist seit der Hauptstadtwahl. Sie wissen auch, dass bald Antworten erwartet werden auf politische Fragen, Meinungen zu lokalen Themen. Presseteams sind angerückt, um zu ergründen, ob es so etwas gibt wie ein landespolitisches Profil. Die Piraten sind gegen die Elbvertiefung, das ist bekannt, und dass sie den HVV durch Steuern kostenlos machen wollen. Viel mehr nicht. Als der Berliner Spitzenkandidat Andreas Baum einmal gefragt wurde, wie viele Schulden die Hauptstadt habe, stotterte er: "Viele, viele Millionen." In Wirklichkeit sind es mehr als 63 Milliarden, auf Youtube wurde die Szene rauf- und runtergespielt. Die Hamburger Piraten sind gewarnt.

Gunnar Thöle, 33, ist seit der Gründung des Landesverbands im Jahr 2007 dabei, ein schmaler Mann mit Brille und Pennäler-Charme. Ehrfürchtig blickt er umher. Früher, sagt er, hätten sie ihre Parteitage manchmal zu sechst abgehalten. "Heute passen gar nicht alle rein." Dann wird es hektisch, spontan wird Gunnar zum Versammlungsleiter bestimmt. Ein bisschen verloren steht er auf der großen Bühne und liest Tagesordnungspunkte vor. Tagesordnungspunkt Nummer sechs ist die Geschäftsordnung: "Weiß jeder, was eine Geschäftsordnung ist?" Er erklärt das Feld der Bürokratie so geduldig, als moderiere er die ,Sendung mit der Maus'. "Und jetzt", sagt er irgendwann, "üben wir mal ein Meinungsbild."

Neu-Pirat Wolfgang Ludwig, 42, sitzt ganz ruhig hinten. Er ist das erste Mal in einer Partei "Das ist alles ganz neu in meinem Leben", sagt er. Warum die Piraten? Ganz kurz nur überlegt er und zählt dann in wenigen Sätzen seine Gründe auf: Die großen Parteien seien sich zu ähnlich geworden. Die Wege durch die politischen Hierarchien seien zu weit, als dass man als Bürger noch dahin durchdringen könne, wo die Entscheidungen gefällt werden. Und das in einer Zeit, in der so vieles passiert. "Die Piraten sind da ein Ventil für Leute, die ihren Platz nicht in den etablierten Parteien finden", sagt er.

Bleibt die Frage nach dem Programm. Sie kommt auch aus dem Publikum, als sich die Kandidaten für den Vorsitz vorstellen. Der bisherige Vorsitzende Christian Bucher tritt nicht an, er kam vor einem Jahr ins Amt, als die Welt der Piraten noch ruhiger war. In diesem Jahr wissen die Kandidaten, was sie erwartet. Ein ehemaliges SED-Mitglied ist dabei und einer, der mal Landesvorsitzender der Anarchistischen Pogo-Partei war. In anderen Ländern gab es ehemalige NPD-Mitglieder. Auch dass die Partei irgendwo zwischen links und rechts steht, macht ihre Verortung so schwierig. Gewählt wird schließlich die Judaistin Anne Alter, 45, vor den Piraten war sie noch nie politisch aktiv. Sie verspricht, sich möglichst rasch für ein breiteres Programm einzusetzen - das aber, betont sie mehrmals, aus der Basis kommen müsse.

Das Internet, sagen die Piraten, stehe vor allem auch für Transparenz und direkte Mitbestimmung. Themen sollen online gestellt und von allen öffentlich diskutiert werden, bevor sie vielleicht zum Antrag kommen.

Und so ist es wohl weniger das konkrete Programm als vor allem die Hoffnung auf eine andere Form der Politik, die die Leute anzieht. Wolfgang Ludwig hört sich an diesem Tag alles aufmerksam an. Das mangelnde Programm finde er nicht schlimm, sagt er. "Ich finde es ehrlicher, Lücken zuzugeben, als dem Wähler nach dem Mund zu reden."