In dem Museum der besonderen Art am Alten Wandrahm bekommen jährlich 75.000 Besucher eine Vorstellung, was es bedeutet, blind zu sein.

Hamburg. Wie hält man einen Blindenstock? Bei der kurzen Einweisung am Eingang erklärt uns ein freundlicher Mitarbeiter, mit welchen Stock-Bewegungen wir vor uns liegende Hindernisse wahrnehmen und Unebenheiten am Boden erkennen können. Das ist, finde ich, ganz einfach, jedenfalls solange ich sehen kann. Schon 60 Sekunden später wird es extrem schwierig. Der Übergang vom Licht zur Dunkelheit, von der Welt der Sehenden in die der Blinden, vollzieht sich im dämmrigen Eingangsbereich der szenografischen Ausstellung "Dialog im Dunkeln" am Wandrahm 4, die am 31. März 2000 in Hamburg eröffnet wurde und heute ihr zehnjähriges Bestehen feiert.

Die sympathische Stimme einer jungen Frau kommt schon aus dem schwarzen Nichts, das vor uns liegt. "Kommt hierher", sagt sie und stellt sich als Anoma vor. "Kommt in die Richtung meiner Stimme", sagt Anoma, die in den nächsten 90 Minuten der Guide unserer sechsköpfigen Gruppe sein wird. Es fällt mir schwer, es widerstrebt mir zutiefst, in die Dunkelheit zu gehen, nicht zu sehen, wohin ich meine Füße setze. Meine rechte Hand krampft sich um den Blindenstock, mit dem ich den vor mir liegenden Weg abtaste. Anoma dagegen ist gut drauf, macht einen Scherz und mindert damit meine Beklommenheit.

Anoma ist blind und mir gegenüber damit jetzt echt im Vorteil. Wir reden viel - man muss hier viel reden -, denn nur so können wir uns gegenseitig wahrnehmen. Und das Reden gibt auch Sicherheit. Behutsam und langsam führt uns Anoma durch einen Wald, zwischen Bäumen hindurch, an einem Wasserfall vorbei, über eine schwankende Holzbrücke. Wir gehen bei schmerzhaft lautem Verkehrslärm zwischen parkenden Autos über eine Straße, dann eine Hauswand entlang, ertasten an Wohnungseingängen Klingelknöpfe und Briefkastenschlitze. Schließlich besteigen wir ein Boot, das bedenklich im Wasser schwankt. Anoma lässt den Motor an, wir legen ab, nehmen Fahrt auf. Möwen schreien, das tiefe Röhren eines Containerriesen ist zu hören. Der Wind bläst mir ins Gesicht, wir fahren mitten durch den Hafen. Das alles ist erstaunlich real, auch wenn wir uns hier in einer simulierten Welt befinden. Irgendjemand fasst mir auf die Schulter und entschuldigt sich gleich darauf. Es ist Klaus, keine Ahnung mehr, wie er aussieht, obwohl wir erst vor 40 Minuten gemeinsam ins Dunkle getreten sind.

Wenn man nichts sieht, muss man sich auf Tastsinn und Gehör verlassen. Trotzdem ist es schwer, sich den Raum vorzustellen. Wie weit sind wir gegangen? Keine Ahnung, wie groß der "Wald" ist, den wir vorhin durchquert haben. Die "Hafenrundfahrt" kam mir weit vor, aber vielleicht haben wir in Wahrheit nur eine Strecke von zwei Metern zurückgelegt. Kein Besucher wird das erfahren. Wie lange sind wir hier eigentlich schon unterwegs? Auch das Zeitgefühl lässt mich im Stich, meine Armbanduhr habe ich am Eingang abgeben müssen. Selbst Leuchtziffern sind hier nicht erlaubt.

Irgendwann sitzt unsere Gruppe am Ende der Ausstellung in der Dunkelbar auf einem großen halbrunden Sofa. Zuvor haben wir am Tresen Getränke bestellt und bezahlt. Auch das ist nicht einfach für uns, für den Barkeeper schon. Der ist ebenso blind wie die Kellnerin, die später die Tische abräumt. Ich habe keine Ahnung, wie viel ich für meine Cola bezahlt habe, bin nur froh, dass ich sie ohne zu verschütten zum Tisch balancieren kann. "Erleben wir jetzt wirklich, wie es ist, blind zu sein?", frage ich Anoma, die von links antwortet, obwohl ich sie eigentlich rechts vermutet habe. "Nein, es sind eigentlich nur Parallelen. Aber sie vermitteln immerhin eine Vorstellung", sagt die junge Frau, die die Museumspädagogik im "Dialog im Dunkeln" leitet. Anoma Tissera ist von Geburt an blind. "Ihr erlebt hier eine für Blinde atypische Situation", sagt sie. "In der Ausstellung seid ihr alle blind und auf die Hilfe des Guides angewiesen. Als Blinde müssen wir aber in der Regel allein mit einer Situation zurechtkommen, in der alle anderen sehen."

Rollentausch nennt das Angela Schmidt, die Geschäftsführerin des "Dialogs im Dunkeln", in deren Büro ich wenig später blinzelnd in ungewohnter Helligkeit sitze: In diesem Museum, in dem es buchstäblich nichts zu sehen gibt, sind nicht die Blinden behindert, sondern die Sehenden. In dem alten Lagerhaus am Rande der Speicherstadt erleben das pro Jahr 75 000 Menschen - eine extreme sinnliche Erfahrung, an die sie sich oft noch Jahre später minutiös erinnern können. Täglich gibt es maximal 33 anderthalbstündige Touren mit maximal neun Teilnehmern, die jeweils von einem blinden Guide geführt werden. Mehr geht nicht, mehr Kapazität hat die Ausstellung nicht. Etwa 30.000 Schüler gehören jährlich zu den Besuchern, eine besonders wichtige Gruppe, die in speziellen Schülerworkshops auf die Ausstellung vorbereitet werden muss. Der Aufwand ist personalintensiv, die Kosten sind daher höher als die Einnahmen, die mit Besuchern zu erzielen sind.

"Wir geben 50 blinden und sehbehinderten Menschen Arbeit, haben insgesamt 36 feste Stellen und zusätzlich 30 Teilzeitstellen", sagt Angela Schmidt, die sich in einer merkwürdigen Situation befindet: Einerseits ist das von dem ehemaligen Journalisten Andreas Heinecke konzipierte Projekt eine fast beispiellose Erfolgsgeschichte. Für temporäre oder dauerhafte Ausstellungen in inzwischen 30 Ländern liefert Heineckes Firma "Dialogue Social Enterprise" das Know-how und die Lizenzen.

Andererseits muss die Hamburger Ausstellung kostendeckend arbeiten. Seit vier Jahren bietet das Dialog-Team neben der Ausstellung noch das "Dinner in the Dark" an, ein Überraschungsmenü im lichtlosen Raum, sowie die "Seminare und Trainings im Dunkeln" für Führungskräfte und Teams, die die blinde Pädagogin Dörte Maack entwickelt hat. Dieses sehr erfolgreiche Projekt wird durch blinde Business Trainer durchgeführt. Eigens dafür wurde in dem historischen Gebäude der zweite Speicherboden zu einer außergewöhnlichen "Event-Location mit Fleetblick" ausgebaut, und die Vermietungseinnahmen tun dem Dialog sehr gut. "Trotzdem sind wir finanziell hart am Limit. Wir haben große Mühe, den laufenden Betrieb zu finanzieren", sagt Angela Schmidt.

Zum Geburtstag werden am heutigen Mittwoch Mitarbeiter und Gäste in dem alten Speichergebäude eine Erfolgsgeschichte feiern, deren Zukunft allerdings Sorge macht. Die Wirtschaftskrise hat seit dem letzten Sommer den Seminarbereich hart getroffen, nur langsam steigen die Buchungen hier wieder an. "Unsere Hoffnungen ruhen auf drei Säulen: Wir wünschen uns, dass die Unternehmen wieder mehr Geld für Personalentwicklung ausgeben können, dass wir unsere schönen Flächen wieder mehr vermieten können und - am wichtigsten - dass sich in den nächsten Monaten ein Sponsor findet, der den Dialog im Dunkeln finanziell unterstützt", meint Angela Schmidt. Gelingt das aber nicht, würden nach zehn Jahren Dunkelheit am Alten Wandrahm 4 die Lichter wieder angehen - und ein spannendes soziales und kulturelles Projekt ginge Hamburg wohl für immer verloren.