Hamburgs teuerste Baustelle feiert heute Richtfest. Das Abendblatt hat die Uraufführung dieser Tragikomödie in Worte gefasst.

Vorspiel

Hamburg. Ein Hamburger Maimorgen am Elbufer, leichter Regen. Ein Regenbogen verziert den Himmel. Eifrige Rathaus-Bedienstete rollen knöcheltiefe rote Teppiche Richtung Elbphilharmonie-Baustelle aus. Fachkräfte der Justizbehörde verteilen dezent Maulkörbe an Mitarbeiter der städtischen Realisierungsgesellschaft ReGe, die vor ihren Büros in einem Nachbargebäude Akten mit der Aufschrift "Senatskanzlei" in einen mobilen Reißwolf werfen. Die drei Maurer, die Hochtief noch auf der Baustelle duldet, um den gerichtlich angeordneten Anschein von Arbeitseifer zu wahren, stehen entspannt und sehr dekorativ neben den frisch angelieferten Federpaketen für die Aufhängung des Großen Konzertsaals. Einer von ihnen entfernt routiniert die Warn-Banderole "Vor Nässe schützen!", bevor sie der Regen durchweicht. Es soll doch alles hübsch sein heute, am großen Tag.

+++ Dossier: Die Elbphilharmonie +++

8.11 Uhr

Auftritt Chor der Kulturbehördensprecherinnen. Mit dem Chor der Elbphilharmonie-Pressesprecherinnen üben sie in einer dunklen Ecke des späteren Parkhauses im Kaispeicher A ein letztes Mal ihre Standardfloskel "Was weiß denn ich! Rufen Sie mich nächsten Dienstag wieder an!" für die Baustellen-Führung der auswärtigen Medienvertreter. Einige Meter weiter fällt Licht durch die klaffenden Spalten in der historischen Backsteinfassade. Einer der drei Hochtief-Maurer versucht mit einer ordentlichen Ladung frischem Zementschlamm zu retten, was zu retten ist. Es soll doch alles hübsch sein heute, am großen Tag.

9.50 Uhr

Der Bürgermeister fährt vor. Nach einem Blick auf das Musikprogramm raunt ihm seine Referentin zu, dass man bei Klassik zwischen den Sätzen nicht klatscht. Er hebt kurz erstaunt eine Augenbraue, lässt sich ansonsten aber nichts anmerken.

Vor dem Eingang zur Baustelle: Hunderte Mitglieder des Kunsthallen-Freundeskreises demonstrieren. Sie tragen schwarze Armbinden und bewerfen die geladenen Gäste mit Zuckerwürfeln, weil diese an die Form der zwangsgeschlossenen Galerie der Gegenwart erinnern.

Ex-Kunsthallen-Direktor Hubertus Gaßner kreuzt mit einer gekaperten Barkasse vor dem Kaispeicher auf der Elbe und feuert die Protestler per Megafon an.

Gaßner trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Unser letztes Hemd für die Elbphilharmonie!".

Freundeskreisler rufen wütend: "Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!"

Eine Abordnung aus dem Gängeviertel ist auch da. Sie hat von einer militanten Sympathisantengruppe aus der Museumsszene (ihr Name: "Recht auf Kunst") die ersten ausgetauschten Brandschutzklappen aus der Galerie der Gegenwart zugespielt bekommen. Daniel Richter, Schirmherr des Gängeviertels, hat vier von ihnen bemalt. Junge Künstlerkollegen bieten die Kunstwerke den verdutzten Ehrengästen zum Kauf an. Gesamtpreis: 200 000 Euro - aber nur, wenn man weiß, wie oft 200 000 in 500 Millionen Euro passen. Verwirrte Reeder-Gesichter. Der Chor der Elbphilharmoniesprecherinnen berät sich mit dem Chor der Kulturbehördensprecherinnen. Panische Blicke, hektische Handy-Telefonate.

Die Kultursenatorin huscht vorbei.

Karin von Welck (verzückt, aber auch um Contenance bemüht): "Vertragt euch! Vertragt euch!" Mit einem "Wunderbar ..." auf den Lippen verschwindet sie in der Menge. Der Chor der Kulturbehördensprecherinnen folgt devot.

10.14 Uhr

Auf der Elbphilharmonie-Plaza, knapp 40 Meter über der Elbe.

Ole von Beust (sieht den Hochtief-Chef und klopft ihm jovial auf die Schulter): "Moin, Herr Lütkestratkötter! Mensch, Sie auch hier? Wie geht's uns denn so?"

Herbert Lütkestratkötter blickt angesäuert, doch bevor er reagieren kann, fällt ihm einer der 158 Hochtief-Anwälte ins Wort, die der Baukonzern zum Selbstschutz unter die 1200 geladenen Gäste geschmuggelt hat.

Anwalt Nr. 76 (zischt Lütkestratkötter von rechts ins Ohr): "Pah! Jetzt nichts sagen! Wir müssen solche Fragen überhaupt nicht beantworten!"

Von links nähert sich der Chor der Kulturbehördensprecherinnen.

Die Kultursenatorin huscht vorbei. Blitzlichter spiegeln sich in ihrer Brosche.

Karin von Welck (verzückt, immer noch um Contenance bemüht): "Vertragt euch! Vertragt euch!" Mit einem "Wunderbar ..." auf den Lippen verschwindet sie in der Menge. Der Chor der Kulturbehördensprecherinnen folgt ihr gehorsam.

10.32 Uhr

Der Bürgermeister trifft in der Menschenmenge die Elbphilharmonie-Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron.

Ole von Beust (jovial): "Grüezi miteinand! Wie geht's uns denn so?"

Die Architekten lächeln tapfer, kämpfen mit den Tränen und verschwinden schnell wieder in der Gästemenge. Man hört leises Raunen, das nach Fluchen in Schwyzerdütsch klingt.

Die Kultursenatorin huscht vorbei.

Karin von Welck (verzückt, mehr und mehr um Contenance bemüht): "Vertragt euch! Vertragt euch!" Mit einem "Wunderbar ..." auf den Lippen verschwindet sie in der Menge. Der Chor der Kulturbehördensprecherinnen beschimpft Journalisten, um im Training zu bleiben.

10.49 Uhr

Der Bürgermeister trifft in der Menschenmenge den ReGe-Chef Heribert Leutner.

Ole von Beust (jovial): "Moin, Leutner! Wie geht's uns denn so?"

Leutner (stammelnd, bleich und verängstigt): "Ist das ... (schluckt zweimal) eine Fangfrage, Herr Bürgermeister ...?"

Hochtief-Anwalt Nr. 43 wittert den städtischen Angstschweiß und zieht so unauffällig wie möglich immer engere Kreise um die beiden. Beusts Referentin geht im letzten Moment dazwischen und drängt den Juristen geschickt in Richtung Sektbüfett ab.


11.24 Uhr

Der Bürgermeister trifft in der Menschenmenge auf Generalintendant Christoph Lieben-Seutter.

Ole von Beust (jovial): "Na servus! Wie geht's uns denn so? Wann geht's denn eigentlich los hier?"

Der Konzerthausmanager lächelt tapfer, kämpft mit den Tränen und verschwindet schnell wieder in der Gästemenge. Man hört leises, frustriertes Geraune im Wiener Dialekt.

Ole von Beust (flüstert seiner Referentin ins Ohr): "Verdammich, was haben die denn alle hier? Ich hab doch gar nichts gemacht ..."

(Regieanweisung: ReGe-Mitarbeiter verteilen diskret kleine Handzettel unter den geladenen Gästen: "Wir freuen uns über Ihren Besuch, bitten Sie aber im Namen von Hochtief: Vermeiden Sie hastige Bewegungen und verteilen Sie sich möglichst gleichmäßig auf der Baustelle. Menschenansammlungen an Kanten sind unbedingt zu vermeiden. Vielen Dank, ein schönes Richtfest und auf Wiedersehen irgendwann nach 2015.")

11.13 Uhr

Der Bürgermeister trifft im Trubel auf den SPD-Politiker Olaf Scholz.

Ole von Beust (jovial): "Moin! Wie geht's uns denn so?"

Scholz (breit grinsend): "Bestens! Und selbst?"

(Regieanweisung: 40 Meter tiefer, im Hintergrund, werden weiterhin Senatsakten im mobilen Reißwolf vernichtet.)

Die Kultursenatorin huscht vorbei.

Karin von Welck (verzückt und um einen letzten Rest von Contenance bemüht): "Vertragt euch! Vertragt euch!" Der Chor der Kulturbehördensprecherinnen beschimpft den Chor der Elbphilharmoniesprecherinnen.

Der Bürgermeister lächelt tapfer, kämpft mit den Tränen und verschwindet in der Gästemenge.