Am liebsten wollte Dirk Rehaag Brücken bauen, doch dann vertraute man ihm das Projekt Elbphilharmonie an. Es ist die größte Herausforderung, die ein Hochbauingenieur derzeit in Europa zu bewältigen hat.

Hamburg. Dieser Satz, irgendwann fällt dieser Satz, den man Dirk Rehaag gar nicht zugetraut hätte. "Wissen Sie was? Mein augenblickliches Gefühl ist so, als wenn ich am Bau des Kölner Doms mitarbeiten würde." Und der war mit seinen 157 Metern nicht nur seinerzeit das höchste Gebäude der Welt, sondern ist noch heute mit jährlich sechs Millionen Besuchern das populärste Wahrzeichen in Deutschland. Aber prahlerischer Gigantismus ist so ziemlich das Letzte, was man auf den ersten Blick mit Dirk Rehaag verbinden würde. Der 41-jährige Bauingenieur des Essener Baukonzerns Hochtief ist ein freundlicher Mann, eher nüchtern, sehr ruhig im Ton. Einer, der nicht viel Aufhebens um seine Person macht, obwohl er gerade dabei ist, den Hamburgern ein neues Wahrzeichen an die Wasserkante zu setzen. Der Michel war gestern, morgen ist Elbphilharmonie. Antizyklisch zur (gefühlt) trüben Lage der Nation wächst hier ein weltweit einzigartiges Glas-Spektakel in den Himmel über Hamburg.

Und Rehaag ist der Mann, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Der technische Projektleiter. "Ja, aber mit einem hochkarätigen Team von 80 Mitarbeitern an der Seite", beeilt er sich hinzuzufügen. Mister Elbphilharmonie? "Bitte nicht", sagt er.

Eigentlich wollte Dirk Rehaag Brücken bauen. Nach dem Abitur in Cochem an der Mosel und dem Wehrdienst absolvierte er ein Baustellenpraktikum. "Das war auf einer Brücke über die Mosel - und von da an wusste ich: Das ist es." War es dann aber doch nicht ganz, weil er nach seinem Studium in Karlsruhe zu Hochtief wechselte und als erstes großes Projekt ein Einkaufszentrum in Neumünster zugeteilt bekam. Mit den Brücken hat das "irgendwie nie geklappt", stattdessen bekam Hochtief 2006 den Zuschlag für die Elbphilharmonie. "Die erste Reaktion war total emotional: Wahnsinn, ja das möchte ich gerne bauen", sagt Rehaag. Und die zweite? "Bloß keine zu große emotionale Bindung an das Projekt."

Doch wie soll das gehen, wenn man einem Team vorsteht, das laut Rehaag auf der zurzeit "anspruchsvollsten Hochbaustelle Europas" arbeitet? Wenn man Dinge umsetzt, die so noch nirgendwo auf der Welt gebaut worden sind? Wenn man mithelfen kann, dass aus einem Luftschloss auf Papier ein Konzerthaus auf Pfählen wird? Aus einem historischen Kaispeicher, in dem Kakao gelagert wurde, ein architektonischer Geniestreich, in dem fantastische Klänge ertönen werden? Rehaag sagt, dass es keine Baustelle gibt, bei der alles nach Plan läuft. Er sagt auch, dass ihm "nicht bewusst war, was bei der Elbphilharmonie alles an Fragen aufkommen würde".

Es ist neun Uhr morgens, und wir folgen seinen großen, forschen Schritten, die einen ersten Eindruck davon vermitteln, mit welchem Tempo der gebürtige Hofheimer ("bei Frankfurt") die täglichen Herausforderungen angeht. Zweistündige Projektbesprechung im Hochtief-Büro Am Kaiserkai im Raum "New York". Elf Männer, zwei Frauen. Wenn auf der Baustelle schräg gegenüber das Herz schlägt, dann arbeitet hier das Hirn der Elbphilharmonie. Die zentrale Denkfabrik, in der regelmäßig die Teilprojektleiter für die acht Einzelbereiche Hotel, Konzert, Gastronomie und Wohnen, Rohbau, Speicher, technische Gebäudeausstattung (TGA) sowie Hülle, also Fassade und Dach, zusammenkommen.

Rehaag sagt, dass er sich sein Team zusammenstellen durfte. Das sei schon "privilegiert", aber bei solch einem Bauvorhaben auch angemessen. Viele Kollegen musste er überreden, nach Hamburg zu wechseln und für vier, fünf Jahre die Familie nur am Wochenende zu sehen. Rehaag spricht von "starken Individualisten, die zu einer tollen Mannschaft zusammengeschweißt worden sind". Er selbst sei noch bei keinem Projekt "so weit weg von so vielen Details" gewesen. Für ihn und seinen Stellvertreter Stefan Gralke gilt es vor allem, den Überblick zu behalten.

Den Überblick zum Beispiel über die vielen Unternehmen und Subunternehmen, die an dem Bau beteiligt sind und noch werden. Derzeit beschäftigen rund zwei Dutzend Firmen etwa 250 Menschen auf der Baustelle, auf der mittlerweile das zehnte Obergeschoss in 47 Meter Höhe komplett betoniert worden ist. Im nächsten Jahr, in der heißen Phase, werden es bestimmt 250 Betriebe mit dann tausend Mitarbeitern täglich sein. "Dann wird's brenzlig", sagt Rehaag. Ein Büro sei schon jetzt ausschließlich mit der Logistik beschäftigt, errechne genaue Zeitfenster, in denen zum Beispiel die Lkw punktgenau ihre Ladung anliefern müssen. Bei einer Baustelle, die auf drei Seiten von Wasser umgeben ist, keine einfache Aufgabe.

Aber was ist schon einfach? Bei einem Projekt, das, wie wir in der nächsten Besprechung über "Termincontrolling" erfahren, sage und schreibe 2500 Planungs- und 7500 Arbeitsvorgänge aufweist. Das, was die Hamburger und besonders die Entscheider im Rathaus brennend interessiert, wird hier per "Asta powerproject" riesengroß im Raum "Sydney" an die Wand geworfen: der Arbeitsterminplan für die Elbphilharmonie. Jeder Vorgang hat eine eigene Nummer, und auf einer Zeitachse sind die Daten für Start, Dauer und Beendigung sowie die dafür verantwortlichen Teilprojekt- und Bauleiter aufgeführt. In Sekunden lassen sich per Mausklick Verzögerungen feststellen, und - noch wichtiger - welche Folgen diese für die nächsten Bauabschnitte haben könnten. In diesen Besprechungen verschafft sich Rehaag regelmäßig einen Überblick: Wo liegen wir gut in der Zeit? Wo haben wir Chancen, Verzögerungen aufzuholen? Welche wesentlichen Vorgänge laufen in den nächsten vier Wochen ab? "Wichtig ist es", sagt er, "sehr früh mögliche Abweichungen festzustellen, um durch Mehreinsatz und Umorganisation gegensteuern zu können." Sie sprechen von dem "kritischen Weg", auf den es zu achten gilt, um nicht plötzlich böse überrascht zu werden. Und um ein Datum einzuhalten: den 30. November 2011, den Tag der Übergabe.

Rehaag bezweifelt nicht, dass das gelingt. Ein neuartiges, digitales Mittel auf dem Weg dorthin erleben wir bei der nächsten Sitzung: Clash-Detection, was so viel bedeutet wie das Erkennen von Kollisionen. Wenn früher der Monteur in den Container kam und zum Bauleiter sagte: "Chef, ich hab da ein Problem", weil zum Beispiel ein Lüftungskanal nicht an der vorgegebenen Stelle auf eine Montagewand traf, werden solche Situationen heute von vornherein vermieden. Per 3-D-Simulation bewegen wir uns durch das Innere des Rohbaus, pro Etage werden durch einen roten Kreis etwa hundert "Clashes" angezeigt. Julian Janßen, Bauleitung TGA, registriert die Zusammenstöße - und löst das Problem ruckzuck per Laptop. Kollisionstyp: gering. Lösung: Trasse muss angepasst werden. Status: erledigt. "Ohne diese 3-D-Möglichkeiten, die wir erstmals auf einer solch großen Baustelle anwenden, wäre es gar nicht möglich, die Elbphilharmonie in so kurzer Zeit zu planen und fertigzustellen", sagt Rehaag. Die Anforderungen an Elektronik, Lüftung und Heizung sind bei einem Bau dieser Dimension enorm, Stefan Gralke spricht von "echten Kathedralen", die sich sozusagen im Untergrund befinden, und davon, dass man sich durch die 3-D-Simulation die "Debattierklubs auf der Baustelle jetzt zum großen Teil erspart".

Geredet wird vorher um so mehr. Überirdisch. Besprechung mit Beate Cornils, Teilprojektleiterin Konzert, und den Bauleitern Tino Socher und Robert Schymalla. Es geht um das, was die Elbphilharmonie weltweit einmalig macht - den Großen Saal, die wohl spannendste Herausforderung der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron an die Ingenieure. Ein hängender Konzertsaal für 2150 Besucher. Das Orchester befindet sich mitten im Raum, die Zuschauerränge sind ineinander verwoben, die hellen Oberflächen reflektieren Schall und Licht, ein riesiger Reflektor an der spitz nach oben laufenden Saaldecke sorgt für eine herausragende Akustik. Für Klänge, die nicht nach außen dringen. Genauso wenig wie Schallwellen von draußen hereinfinden können. Weil nämlich in der zweischaligen Konstruktion die innere Schale auf Federpaketen lagert. Und das hat eine akustische Entkopplung zur Folge. "Sie müssen sich das wie Stoßdämpfer beim Auto vorstellen, nur viel größer", sagt Beate Cornils.

An diesem Großen Saal lässt sich die komplexe Geschichte der Elbphilharmonie erzählen. Mit ihren Superlativen und ihren Problemen, ihren gewaltigen Kostensteigerungen und den heftigen politischen Auseinandersetzungen, die womöglich noch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss nach sich ziehen werden. Und hier wird sich letztlich entscheiden, ob die widerstreitenden Belange vieler verschiedener Parteien in ein überzeugendes Gesamtkunstwerk münden, dem man die Narben seiner aufreibenden Entstehungsgeschichte nicht ansieht.

Denn auch auf dieser Großbaustelle ist es so wie bei jeder Doppelhaushälfte: Was Planer planen und Bauherren bezahlen, muss der Generalunternehmer umsetzen. Und wenn mit den Künstlern die Pferde durchgehen, ist der Ingenieur oft die Spaßbremse, der vor allem die Kosten im Blick hat. Rehaag sagt, dass Ingenieure den rechten Winkel schätzen. Wenn der jedoch bei der Elbphilharmonie quasi zur Bedeutungslosigkeit degradiert wurde, weil fast alles rund, schräg, gekrümmt oder gebogen daherkommt, wird es kompliziert - und teuer. Rehaag umschreibt die künstlerische Kraft der Schweizer Architekten fraglos elegant: "Dieses Projekt zeichnet sich durch eine hohe planerische Dynamik aus." So hoch freilich, dass im letzten Jahr Beteiligte wie der damalige ReGe-Chef Hartmut Wegener aus der Kurve flogen und das Jahrhundertprojekt mächtig ins Schlingern geriet.

Wenn der Senat in einer Mitteilung an die Bürgerschaft aber schreibt, dass "die Höhe der strittigen Forderungen (270 Millionen Euro) eine Kündigung durch Hochtief möglich erscheinen ließ", ist das eine Fehleinschätzung. Undenkbar, dass Dirk Rehaag seinen ganz persönlichen Kölner Dom als Bauruine an der Elbe zurückgelassen hätte. "Natürlich gab es Phasen der Frustration", sagt Rehaag im Rückblick, "aber ein Aufgeben kam nie infrage."

Schließlich sei da immer auch die "Verantwortung für das Team" gewesen. Ein verschworener Haufen. Einmal im Jahr werden zum "Familientag" Partner und Kinder nach Hamburg eingeladen, alle vier Monate gibt es im Museum der Arbeit ein sogenanntes Basis-Camp. Die Elbphilharmonie "ist ja unser 8000er, den wir erklimmen müssen", sagt Rehaag. Ein externer Moderator coacht diese Treffen, auf denen sie sich ständig hinterfragen: Wie gehen wir miteinander um? Wie schaffen wir es, nicht nur noch per Mail miteinander zu kommunizieren? Aus einem dieser Treffen resultiert ein Zettel, der für alle sichtbar in Rehaags Büro hängt. Darauf sind die Ziele für 2009 definiert: Weihnachtskonzert im 3. Saal, den eigenen Wagen im Parkhaus abstellen, die Garderobe in der Hotelverwaltung ablegen. Konzert der Hausband, Abendessen im Gastronomiebereich im 5. OG.

Noch sind sie im Plan. Bleibt das so, wäre 2012 die Eröffnung. Sechs Jahre Bauzeit - für ein Wahrzeichen nicht schlecht. Und nur ein Wimpernschlag verglichen mit den 600 Jahren, die der Kölner Dom benötigte.