Mehr als 30 internationale Künstler realisieren beim Dockville-Kunst-Camp “Recreation“ ihre Projekte

Wilhelmsburg. Ein bisschen ist es wie High Noon in der Mittagshitze. Der Asphalt flirrt unter der Sonne, Lkw rauschen ungerührt vorbei und der Hauptdeich scheint sich bei 34 Grad unter den müden Beinen immer länger auszudehnen. Doch endlich taucht am Reiherstiegknie, dem Reiherstieg Hauptdeich an der Ecke Alte Schleuse, das zugewachsene Dockville-Gelände auf, genauer ein Schild mit der krakeligen roten Aufschrift "Achtung Betreten der Baustelle auf eigene Gefahr".

Auf dem ca. 25 000 Quadratmater großen Gelände mischt sich in das Zirpen der Grillen der Sound einer Kreissäge, durch die wilden Brombeeren schlängelt sich das Kabel für eine Starkstromleitung - oder ist es eine Wasserpumpe?

Auf jeden Fall ist jetzt Kunst-Camp und für drei Wochen wird auf dem Dockville-Gelände geschraubt und aufgebaut, was das Zeug hält. Zwei die helfen sind Loreley Nagel und Martin Schwabe (25) aus Bielefeld. Loreley wird eine Woche unter dem fast unnatürlich blauen Himmel mitwerkeln, besondere handwerkliche Begabung brauche man da nicht, versichert die 18-jährige aus Heimfeld glaubhaft hinter ihrer schwarzen Ray-Ban-Sonnenbrille. "Die schwierigen Sachen machen zwei Gesellen."

Kuratoren konnten 15 internationale Kunstprojekte an Land ziehen

Dafür hat sie danach ihr Ticket für das Festival im Sack. Martin, 25, Student aus Bielefeld, war schon letztes Jahr mit dabei und hat sich gleich für ganze vier Wochen angesagt. Mittlerweile sind seine Arme tief braun und die Beine zerkratzt von den wilden Brombeersträuchern. "Die Festival-Karte und das ein oder andere Bier seien da schon drin", sagt Martin.

Doch für Geld schraubt hier natürlich keiner, es ist eher die Atmosphäre, zum Beispiel wenn sich die großen Pötte auf dem Reiherstiegkanal am düsteren Rethespeicher vorbeischieben oder die eine oder andere Lagerfeuerfackel noch spät in den Nachthimmel gereckt wird.

15 zum Teil internationale Kunstprojekte konnte das Kuratorenteam des Dockville-Kunstcamps, Dorothee Halbrock, Maren Pahnke und Laura Raber (die dieses Jahr von einem Beirat unterstützt werden) an Land ziehen. Einige der auswärtigen Künstler campieren gleich in leeren Hallen, die sich unweit des Festivalplatzes befinden. Ihre Standardausrüstung: Lichtschutzfaktor, Wasser und Sonnenbrille. Das "Institut für wahre Kunst" mit Künstlern aus Chemnitz, Berlin und Dresden bevorzugt zum Beispiel Lichtschutzfaktor 50 und hat in der Nähe des Festivaleingangs schon die Grundvoraussetzungen für ihre Wasserinstallation auf dem Gelände geschaffen: Ein Feld aus installierten Duschköpfen. Später sollen die Duschköpfe durch Eisenstangen ungefähr zwei Meter hoch werden und wie ein Feld von Sonnenblumen ihre Köpfchen gen Himmel strecken. Herrlich erholsam, wenn hier erst mal das Wasser plätschert. Jetzt hoffen alle, dass die Wasserpumpe das auch schafft.

Das Kunst-Camp des Dockville-Festivals haben die Initiatoren dieses Jahr unter das Motto "Recreation" gestellt. Damit will man gleich ein ganzes schönes Bündel von Bezügen aufmachen: Erst mal ist mit der "Rekreation" natürlich das Verwerten von gebrauchten Materialien gemeint, besonders sinnfällig wird das bei den "Azubis", die aus Resten und Abfällen der Ausstellung eine Art Festivaltagebuch erschaffen. Aber auch "Umdeuten", in "neue Bezüge setzen" und "neu Erschaffen" sind gemeint. Allen voran steht allerdings der Aspekt der "Erholung" - Rekreation eben.

"Es ist ja jedes Jahr so, dass wir mit verschiedenen Leuten etwas an einem Ort entstehen lassen", so Laura Raber "Am Anfang ist alles immer unfertig. Und natürlich ist es so ein charmanter Ausnahme- und Urlaubszustand, den wir gemeinsam erleben." Das alles habe man mit dem Motto "Recreation-Camp", das zugleich der Bewerbungsaufruf für die Künstler gewesen sei, akzentuieren wollen. Die 25-Jährige Studentin schiebt ihr schnittiges Rennrad in kurzer Hose und Flip-Flops über das wild bewachsene Festivalgelände, die kurzen blonden Haare sind vom ständigen Draußensein strohblond und die Sommersprossen erzählen ihre eigene Geschichte vom guten Wetter. Laura hat sich "verkabelt", ihre Handyfreisprecheinrichtung in die Ohren gestöpselt. Ständig klingelt das Gerät und jemand fragt etwas - sogar auf Englisch: die Künstler sind ja schließlich international. Zusammen mit dem Künstler Jonathan Gröne macht Laura die Kunstproduktionsleitung, sprich ist das Mädchen für alles. Jonathan wiederum, der letztes Jahr eine Riesenschaukel und das Dockville-Dorf baute, düst gut gelaunt mit dem Zollstock über das Gelände und wird sich wieder mit einem Kunstprojekt beteiligen - einer Art Riesengehirn.

Laura rollt das Rennrad über das Gelände.

Zwei Bushaltestellen in Wilhelmsburg werden zum Park umfunktioniert

Die Studentin der angewandten Kulturwissenschaften zeigt die Kunstprojekte des Amerikaners Brad Downey und von Olaf Nicolai hinten bei den Hallen. Downeys Thema ist die eigenmächtige Deutung des öffentlichen Raumes und passt damit wunderbar zum mittlerweile stadtplanerisch ziemlich gebeutelten Wilhelmsburg. Olaf Nicolai zeigt die Arbeit "Landschaft", die interaktiv Zuschauer und Musiker einlädt, sie zu bespielen und auf ihr ins Gespräch zu kommen,

Beim Konzept sei wichtig gewesen, dass die Projekte auch ortsbezogen arbeiten, sagt Laura, "auch als Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten hier zu sehen sind." Am stärksten wird dies in dem Projekt des Künstlers Conrad Kürzdörfer spürbar. Kürzdörfer startet seine "Intervention in den öffentlichen Raum", indem er zwei Bushaltestellen in Wilhelmsburg zum Park umfunktioniert: Der Künstler wird sie so üppig zu pflanzen und begrünen, dass der lästige Ort des ungeduldigen Wartens zu einer wahren Oase der Erholung wird. Ebenfalls einen hohen Wellnessfaktor verspricht das Projekt von Thomas Judisch, der auf dem Festivalgelände kurzerhand Heilschlammbäder installieren will. Ernster wird es wieder bei Hermann Josef Hack, der bei Beuys das Handwerk lernte und der sich mit seinem "World Climate Refugee Camp" mit den gesellschaftlichen Folgen des Klimawandels auseinandersetzt.

Die Dramaturgie des Kunst- und Musikfestivals Dockville lautet dieses Jahr: erst Kunstcamp (bis 29. Juli), dann Ausstellungswoche mit Abendprogramm (29. Juli - 8. August), dann Lüttville (2. - 8. August) und schließlich das Festivalwochenende (13.-15. August).

Seit dem Premierenjahr 2007 wird das Musikfestival von dem ambitionierten Kunstprogramm flankiert, das schon im ersten Jahr mit einer Elbphilharmonie aus Schrott aufwartete, die kein geringerer als Kunststar Daniel Richter ersann. Gemeinsam wuchsen die beiden Schwerpunkte und so wird Wilhelmsburg wohl auch dieses Jahr zum Magnet für Kunst-, Musik- und Draußenliebhaber avancieren.