Mit Literaturtipps und einer Betrachtung über das Lesen läutet das Hamburger Abendblatt den Bücherherbst ein

Lüneburg. Einmal dabei sein, wenn Jeanne d'Arc auf dem Scheiterhaufen brennt. Mit Kurt Wallander in die düstersten Winkel der menschlichen Psyche vordringen. Oder einfach die große, wahre Liebe erleben - fremde Welten warten in Büchern auf Leser; geheimnisvoll, spannend, erheiternd oder erbaulich. Wenn man denn richtig lesen kann.

Denn wer das Wort "Milch" auf einem Einkaufszettel entziffern kann, der kann noch lange nicht lesen. "Ich muss auch wissen, was das ist, Milch", sagt Steffen Gailberger, Mitarbeiter am "Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik" an der Lüneburger Leuphana Universität. "Es braucht ein Vorwissen, um einen Text verstehen und reflektieren zu können."

Wer also nach Konsultation des Merkzettels im Supermarkt zum Kühlregal marschiert, gilt zumindest nicht mehr als Analphabet. Von der Zeitungslektüre, dem Verschlingen eines Romans oder gar der Auseinandersetzung mit klassischer Literatur ist der Milchkäufer aber noch weit entfernt.

Denn dazu muss der Leser in der Lage sein, Zusammenhänge herzustellen, die über das bloße Erkennen von Worten oder Sätzen hinausgehen - erst innerhalb eines Absatzes, dann auch über mehrere Absätze hinweg. "Im Idealfall versteht und reflektiert der Leser den Text in Gänze", so Gailberger.

Wer dazu in der Lage ist, kann beim Friseur zur "Gala" greifen und sich entspannt über die neuesten Eskapaden von Stars und Sternchen informieren. Ha! Information. Ein weiteres Schlüsselwort, denn Zeitungs- oder Zeitschriftenlesen diene in erster Linie der Informationsbeschaffung, sagt Literaturwissenschaftler Gailberger. Wer Bücher (ausgenommen natürlich Fachliteratur) liest, will aber mehr: Gefühle!

Wer mit den Protagonisten leiden, hoffen, lieben und kämpfen will, muss nicht nur Wortreihungen decodieren, Zusammenhänge herstellen und mit gespeichertem Wissen abgleichen, sondern auch noch Bilder generieren. "In dem Moment, in dem ich mir die Figuren und Orte vorstellen kann, mache ich eine Fantasiereise, tauche ab in fremde Welten", sagt Gailberger. "Dazu bedarf es einer gewissen Leseflüssigkeit. Ein schwacher Leser tut sich ganz schwer, sich Bilder vorzustellen, weil ihn das Lesen an sich schon so anstrengt."

Hörbucher sind da eine bequeme Variante, fällt doch das mühsame Lesen weg. Ob ein Text dadurch weniger intensiv miterlebt wird, wurde laut Gailberger bisher noch nicht empirisch untersucht. "Man weiß aber, dass die Prozesse im Gehirn beim Lesen und Hören eines Textes sehr, sehr ähnlich sind." Anders sehe die Sache bei Filmen aus: Die Bilder werden mitgeliefert, das sei "eine zweidimensionale Angelegenheit". Stimmt: Die Filmfiguren sehen meist ganz anders aus, als man sie sich beim Lesen vorgestellt hat.

Beim Hörbuch dagegen ist die Fantasie des Hörers gefragt. Trotzdem gibt es gegenüber dem Lesen von Büchern eine Einschränkung: die Stimme des Vorlesers. "Wenn ich die Stimme nicht mag, hat die Literatur keine Chance. Und vielleicht interpretiert der Vorleser eine Figur anders, als ich sie mir vorstellen würde." Ganz schlimm, schimpft Gailberger, seien Schauspieler, die sich und ihre Stimme in den Vordergrund stellten statt der Literatur. "Klaus Kinski ist so einer. Oder Ben Becker. Ich würde niemandem raten, ein Hörbuch zu kaufen, das von Ben Becker eingelesen wurde. Ich würde immer davon ausgehen, dass der sich nur selbst beweihräuchert."

Gute Hörbucher aber - "Vorsicht vor billigen Produktionen" - eignen sich nicht nur zum mühelosen Literaturgenuss. In mehrjähriger Forschung hat Gailberger herausgefunden, dass das gleichzeitige Lesen und Hören eines Textes die Lesekompetenz von Schulkindern in nur acht Wochen deutlich verbessert.

Noch besser wäre es allerdings, wenn eine Förderung gar nicht nötig ist. Hier sind die Eltern gefragt, so der Experte. "Ohne Lesevorbilder in der Familie ist die Chance sehr gering, dass auch die Söhne und Töchter begeisterte und damit kompetente Leser werden."

Steffen Gailberger: Lesen durch Hören: Leseförderung in der Sek. I mit Hörbüchern und neuen Lesestrategien, Beltz Verlag, 24,95 Euro