Hamburg. Raus aus der Corona-Lethargie! Ernährungs-Experte Dr. Matthias Riedl gibt Tipps zur Ernährungsumstellung – ganz ohne Verbote.

Dr. Matthias Riedl hat eine Mission – den Menschen gesunde Ernährung näherzubringen. „Essen ist die wichtigste Krankheitsursache geworden“, sagt der Ernährungsmediziner, „früher waren es Rauchen, Essen und Bewegungsmangel.“ Da habe sich langsam eine Katastrophe entwickelt – parallel zur Klimakrise –, die aber niemand richtig wahrhaben wolle.

„90 Prozent der Krankheiten entstehen durch falsches Verhalten, und dabei hat falsche Ernährung den größten Anteil, das hat die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) festgestellt“, so Riedl. Das habe Auswirkungen auf Gesundheit, Gewicht, Fitness – und sogar auf die Überlebenschancen bei einer Covid-Infektion, denn Adipositas bringe auch ein höheres Risiko für einen schweren Covid-Verlauf mit sich.

Ernährung: „Essen kann krank machen!"

„Essen kann krank machen! Oder andersherum auch die eigene Gesundheit stärken“, sagt Riedl, der im NDR seit Jahren als Ernährungs-Doc vielfältigste schwierige Fälle behandelt. „Besonders die Volkserkrankungen wie Adipositas, Diabetes Typ 2 oder eine Fettleber können durch Ernährung verbessert werden.“ Grund für die starke Zunahme dieser Krankheiten sind laut Riedl zum größten Teil der Einfluss der Fast-Food-Industrie und unsere Überflussgesellschaft allgemein.

Besagte Krankheiten könnten bereits im Kindesalter entstehen, sagt der Ernährungs-Doc, der aber auch Mut machen will: „Es gibt kaum eine Erkrankung, die durch Ernährung nicht verbessert werden kann. Gleichzeitig können damit ganz viele Medikamente eingespart werden.“ Auch Nahrungsunverträglichkeiten wie Laktose-, Fruktose- oder Histaminintoleranz lassen sich seinen Angaben zufolge mit einer Ernährungstherapie verbessern. Außerdem könne eine Ernährungsumstellung bei den meisten Magen- und Darmerkrankungen, etwa Morbus Crohn, Zöliakie, Reizdarmsyndrom, Verstopfung oder Sodbrennen helfen.

Matthias Riedl im Medicum Hamburg tätig

In seiner großen Praxis, dem Medicum Hamburg am Berliner Tor, behandeln Matthias Riedl und seine Kollegen nach eigenen Angaben etwa 100.000 Patienten pro Jahr. „Wir beschäftigten uns hier fast nur mit den Auswirkungen des falschen Essens“, sagt der Internist, Ernährungsmediziner und Diabetologe. Dafür fehle aber vielfach noch das Bewusstsein in der Gesellschaft, in der Politik und leider auch bei vielen Arztkollegen: „Es ist ein Riesen-Eisberg, und wir dampfen noch mit Vollgeschwindigkeit drauf zu“, sagt er.

In seiner Kindheit habe er wegen gesundheitlicher Probleme auf Anraten des Hausarztes rohe Leber essen müssen, erzählt der Arzt, dabei steckte eine Allergie hinter seinen Problemen. „Meine Mutter hat die verordnete Leber wenigstens gebraten, aber auch damals hätte der Arzt schon etwas über Allergien wissen können. Ich habe eine tiefe Abneigung gegen fehlende Fortbildung bei Medizinern.“ Er könne einfach nicht mitansehen, wie Menschen unwürdig leiden müssten, weil sie nicht ursächlich therapiert würden.

Corona hat gesundheitliche Probleme verschärft

Riedl ist selbst die beste Werbung für seine Mission. Der Mediziner ist ausgesprochen schlank und macht nach eigenen Angaben sehr viel Sport, am liebsten im Fitnessstudio, weil er dort disziplinierter sei als zu Hause. „Ein Friseur mit fettigen Haaren wäre ja auch kein Aushängeschild für seinen Laden“, sagt der 59-Jährige fröhlich.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Instagram, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Die Corona-Pandemie hat die gesundheitlichen Probleme vieler Menschen nach Ansicht von Riedl noch drastisch verschärft. Viele hätten sich zu wenig bewegt, mehr Alkohol getrunken als davor und sich zusätzliche Kilos angefuttert. „Wir sind seit zwei Jahren der Situation hilflos ausgeliefert, haben das Gefühl, nichts machen zu können, aber das ist falsch. Man kann etwas tun, und wir zeigen, wie“, sagt Riedl und verbreitet Optimismus. Jetzt, zu Beginn des Frühlings, sei der ideale Zeitpunkt für positive Veränderungen. Dazu wolle er hier gern konkrete Handlungsanleitungen geben.

„Ich habe das Elend dann hier in der Praxis“

„Viele Menschen haben ja keine genaue Vorstellung von gesundem Essen. Wer beispielsweise täglich ein Fertiggericht isst, erhöht damit seine Sterblichkeit.“ Das gelte auch für Menschen, die täglich im Restaurant essen, denn dort werde immer häufiger mit Fertigprodukten gekocht. „Ich habe das Elend dann hier in der Praxis“, sagt Riedl. Viele Menschen seien der Meinung, es sei ihnen nicht möglich, etwas an ihrem Gewicht und ihren Krankheiten zu ändern. „Dabei kann man immer anfangen, seinen Lebensstil und seine Ernährung zu ändern. Viele Menschen haben diesbezüglich keine Kompetenzen, aber die können wir vermitteln.“

Das Credo des Ernährungs-Docs lautet: „Es gibt keine Verbote, die angepeilten Veränderungen müssen auf jeden Menschen individuell abgestimmt sein. Bislang werden Verhaltensänderungen zu autoritär verordnet, aber es geht einfach darum, das negative Verhalten runter- und das gute hochzufahren.“

„Männer reden nicht über Krankheiten“

Dabei hat der Ernährungs-Doc die Erfahrung gemacht, dass es schwieriger ist, Männer zu motivieren, denn Frauen hätten oft eine höhere Sensibilität für ihren Körper und ihre Gesundheit. Männer hätten kein Gefühl für Schwäche, weil es ihrem Selbstbild widerspreche. „Männer reden nicht über Krankheiten“, sagt Riedl. Frauen seien auch unter seinen Patienten in der Überzahl. „Männer kommen erst zu uns, wenn sie im Büro die Treppe nicht mehr hochkommen.“

Um das eigene Verhalten zu ändern, ist laut Riedl Folgendes nötig: „Veränderungen sollte man nur in kleinen Schritten planen, lieb gewordene Gewohnheiten überprüfen und die 20:80-Regel anwenden, also 20 Prozent der Gewohnheiten verändern und 80 Prozent beibehalten, um erfolgreich zu sein.“ Große Würfe mit Diäten erreichen zu wollen, das sei widerlegt und „großer Bullshit“.

„Lange Zeit hieß es, Diabetes sei nicht heilbar"

Eine der großen Geißeln der Menschheit ist Riedl zufolge Diabetes. „Lange Zeit hieß es, Diabetes sei nicht heilbar, aber das stimmt nicht. Wir machen seit 20 Jahren Remissionstherapien. Mit unserer Ernährungstherapie gehen aber auch andere Zivilisationskrankheiten zurück.“

Ein Grundproblem: Viele Erwachsene würden einfach viel zu viel essen, dabei komme jeder Mensch mit einem perfekten Sättigungsgefühl zur Welt. Das gehe vielen Menschen aber im Lauf der Jahre verloren, sagt Riedl, auch weil Kinder oft aufgefordert würden, ihren Teller leer zu essen. Aber das Sättigungsgefühl könne sich restaurieren.

Viele Menschen schlingen das Essen runter

Ein weiteres Problem sieht er darin, dass viele Menschen ihr Essen zu schnell hinunterschlingen. „Bis sich ein Gefühl der Sättigung einstellt, vergehen 20 Minuten. Daher gilt der Rat, jeden Bissen 20- bis 30-mal zu kauen“, sagt der Arzt.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Instagram, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Riedl, der in Uetersen geboren wurde, stellt nach eigener Aussage die Patienten mit ihren Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Das Medicum Hamburg mit seinen 100 Mitarbeitern sei inzwischen ein interdisziplinäres Zentrum für Diabetes, Ernährungsmedizin und angrenzende Fachgebiete. Hervorgegangen ist die Einrichtung aus der Diabetiker Zen­trale Hamburg, die ab 1943 nur Insulin verteilen sollte, aber immer weiter ausgebaut wurde. 1999 firmierte sie um in Diabetes Zentrum Berliner Tor, ehe 2008 die Umbenennung in Medicum Hamburg erfolgte. Seit 2018 beraten Riedl und seine Mitarbeiter auch die Athleten des Olympiastützpunkts Hamburg-Schleswig-Holstein in Sachen Ernährungstherapie. Insgesamt gibt es seinen Angaben zufolge in Deutschland etwa 100 Ernährungs-Schwerpunktpraxen, das Medicum sei die größte davon.

Ernährung: Ein Protokoll kann helfen

Wer seine Ernährung umstellen wolle, solle mit einem Ernährungsprotokoll beginnen, rät der Mediziner. Er und seine Kollegen haben dazu eine App entwickelt (myFoodDoctor). „Das kann die erste Anlaufstelle sein, um sich Gedanken über die eigene Ernährung zu machen.“ Jeder Nutzer trägt darin sämtliche Mahlzeiten und Getränke, aber auch Bewegungsaktivitäten ein. „Damit kann man die Fehler bei der Ernährung identifizieren, und der Nutzer entscheidet dann, welche er bereit ist anzugehen.“

Den größten Hebel habe man, wenn man den Zuckerkonsum reduziere oder auf Zwischenmahlzeiten verzichte. „Ich rate immer, am Anfang nur ein Problem anzugehen. Man kann sich eines nach dem anderen vornehmen, sonst hält man es nicht durch.“ Ist man irgendwann zu alt, um seine Ernährung zu verbessern? „Nein, denn wir haben immer eine Sofortwirkung bei der körperlichen und geistigen Fitness und beim Wohlbefinden“, sagt Riedl. „Man muss einfach nur bereit sein, anzufangen.“