Hamburg hat die Wahl: Am 25. Mai werden die Bezirksparlamente neu bestimmt. Der zentrale Bezirk Mitte wird vor allem von Gegensätzen geprägt. Andere sagen „Vielfalt“ – es kommt eben immer auf den Blickwinkel anIn einer Abendblatt-Serie stellen wir die 54 Wahlkreise in den sieben Hamburger Bezirken vor. Heute Teil: 4

Zum (bestimmt nicht) letzten Mal: Ja, die Insel Neuwerk gehört auch zum Bezirk Mitte, obwohl diese flache, 3,5 Quadratkilometer große Exklave, die vor Cuxhaven aus der Nordsee ragt, aufgrund seiner 108 Kilometer Entfernung vom Bezirksamt am Klosterwall schon ziemlich weit ab vom Schuss liegt. Doch weil Neuwerk gerade mal nur 34 Einwohner (davon acht Kinder und Jugendliche), einen Leuchtturm, fünf Gästehäuser, zwei Briefkästen, drei Telefonzellen, fünf Schweine, 50Pferde und etwa 60 „Gastkühe“ vom Festland beherbergt; weil die Kriminalitätsrate und die Arbeitslosenquote gleich null sind und Integration kein Thema; weil man im Nordsee-Watt vergeblich nach sozialen Brennpunkten oder Baugrundstücken sucht, könnte man sagen, dass Neuwerk ein Stückchen heile Welt darstellt. Was auf den übrigen 138,7 Quadratkilometern Fläche des Bezirks Mitte eher die Ausnahme ist.

Denn man könnte auch sagen: In keinem anderen Bezirk existieren mehr Baustellen, und das ist wörtlich zu nehmen, nicht nur wegen der neuen HafenCity, die seit zehn Jahren elbaufwärts in den Boden gerammt wird. „Wir werden neue Gebiete erschließen, es ist der Aufbruch in den Hamburger Osten“, sagt Bezirksamtsleiter Andy Grote (SPD), für den der Wohnungsbau Priorität besitzt.

In den Stadtteilen Hammerbrook, Billstedt, Hamm-Süd und eben Rothenburgsort sieht Grote das größte Potenzial: 3000 bis 5000 neue Wohnungen (plus Gewerbeimmobilien) könnten hier entstehen, insgesamt könnten im gesamten Bezirk Mitte in den kommenden fünf Jahren bis zu 8000 neue Wohnungen gebaut werden. „Wir haben nach wie vor einen starken Zuzug nach Hamburg. Der Bezirk Mitte hat viele Flächen, die sich gut zur Entwicklung eignen. Dabei ist es wichtig, dass wir einen sozial verträglichen Mix aus öffentlich geförderten, normalen Mietwohnungen und Eigentumswohnungen erreichen“, sagt Andy Grote.

Doch die Stadtplaner in den vier grauen Hochhäusern am Hauptbahnhof konzentrieren sich nicht nur auf den Hamburger Osten und Wilhelmsburg samt Veddel (das erst seit 2008 zum Bezirk Mitte gehört), sondern auch aufs südliche Elbufer, genauer, auf Finkenwerder: „Im Bereich des Steendiekkanal geht es mit den Planungen von bis zu 140 Wohnungen voran“, sagt Grote. Zudem könnten im Bereich zwischen Landscheideweg und Norderdeich rund 435 Einfamilien-, Doppel- und Reihenhäuser gebaut werden, wenn der Bebauungsplan „Finkenwerder 32“ umgesetzt werde. Allerdings schwelte hier schon seit Jahren ein Streit mit Grundstücksbesitzern aus der Nachbarschaft: „Wir hoffen, dass es da zeitnah eine Einigung gibt, denn dieses Baugebiet ist besonders wichtig für ein familienfreundliches Finkenwerder“, sagt der gelernte Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Chef von insgesamt rund 1700 Menschen, die im Bezirksamt Mitte arbeiten. Den wohl heißesten Brennpunkt bilden zurzeit jedoch die einsturzgefährdeten Esso-Häuser auf dem Kiez, die von der „Elbphilharmonie“ angenehmerweise ablenken (die ja jetzt wohl auch ohne weitere Querelen in aller Ruhe zu Ende gebaut werden kann). Dass diese maroden Kästen am Spielbudenplatz abgerissen werden sollen, ist beschlossene Sache. Doch wie die unbestritten attraktive Fläche zukünftig gestaltet werden soll, weiß (noch) niemand.

Nach wie vor konnte sich die Politik mit dem Investor Bayerische Hausbau nicht darüber einigen, wie hoch der Anteil der öffentlich geförderten Wohnungen sein soll. Der Eigentümer bietet maximal ein Drittel an, die Politik fordert 50 Prozent: „Wir befinden uns in Gesprächen mit dem Investor. Wichtig ist, dass das Bauvorhaben nun vorangetrieben wird und dort keine langfristige Brachfläche entsteht“, sagte Grote in einem NDR-Interview. Zunächst einmal müsse es sowieso einen Architektenwettbewerb geben. Dem Bezirksamtschef ist es dabei sehr wichtig, „dass die Bürger auf St. Pauli bei dem Neubau mit eingebunden werden. Sie sollen an der Gestaltung mitwirken, denn schließlich liegt das Grundstück mitten auf dem Kiez“ – der mit den Esso-Häusern jedoch sicherlich eines der letzten „St. Pauli-Biotope“ verlieren dürfte. Und es bleibt höchst vage, wer von den vertriebenen Alteingesessenen in die Neubauten zurückziehen wird oder kann. Falls sie diese Möglichkeit überhaupt erleben werden.

So darf sich der Bezirk Mitte auch rühmen, das größte Demonstranten-Potenzial zu besitzen. Gut, dass aus dem Rathaus Rückendeckung kommt: „Hamburgs neue Wohnungsbau- und Mietenpolitik ist beispielhaft für die ganze Bundesrepublik“, hieß es jüngst aus der regierenden SPD-Fraktion in der Bürgerschaft.

Von der Sozialpolitik – im Besonderen gilt das für die Betreuung sozial schwacher, benachteiligter Kinder und Jugendlicher (und ihrer Eltern) – ließe sich dies auch sagen. Aber leider nur in negativer Hinsicht. Grote, der am 26. April 2012 von der (traditionell rot dominierten) Bezirksversammlung mit fast zwei Dritteln der Stimmen zum neuen Bezirksamtsleiter gewählt wurde, wusste, dass er damals ein schweres Erbe antrat. Sein Vorgänger Markus Schreiber hatte schließlich die politische Verantwortung für die eklatanten Versäumnisse übernommen, die zum Tod der elfjährigen Chantal geführt hatten, die vom zuständigen Jugendamt an heroinsüchtige Pflegeeltern vermittelt worden und an einer Überdosis Methadon gestorben war. Dieses tragische Ereignis offenbarte, dass die angestrebte Zusammenarbeit von freien Trägern und staatlichen Stellen aus einer unheilvollen Melange aus Inkompetenz, mangelnder Kommunikation und fehlender Empathie bestand. Grote versprach, den Umgang mit der sogenannten „milieunahen Unterbringung“ sowie der Jugendhilfe grundlegend zu verändern. Nach 37 Wochen im Amt hatte er nach eigenem Bekunden, eine „weitreichende Umstrukturierung des Jugendamtes in Hamburg-Mitte angeschoben.“ Doch am 18. Dezember 2013 starb die drei Jahre alte Yagmur aus Hamburg-Billstedt an inneren Blutungen infolge eines Leberrisses. Mittlerweile steht die Mutter unter Tatverdacht, ihr Kind totgeprügelt zu haben, der Vater soll nichts dagegen unternommen haben. Das kleine Mädchen war da erst wenige Monate zuvor zu seinen Eltern zurückgekehrt, nachdem es zeitweise in einem Kinderschutzhaus und zuvor bei einer Pflegemutter gelebt hatte. Die Hamburgische Bürgerschaft setzte deshalb jüngst mit den Stimmen von CDU, Grünen und der FDP einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung dieses Falles ein. Der CDU-Obmann im Ausschuss, Christoph de Vries, sagte: „Es wurde ein Mädchen in die Hände ihrer gewalttätigen Eltern gegeben, obwohl es schon einmal lebensbedrohlich verletzt war und es einen Antrag des zuständigen Jugendamtes gab, diesen Eltern das Sorgerecht zu entziehen.“ Die Sanierungsarbeiten, die Andy Grote sich für diesen Bereich vorgenommen hat, sind definitiv nicht abgeschlossen.

Die zukünftigen alten und neuen Bezirksparlamentarier müssen – wie die Verwaltung auch – den Spagat beherrschen.

Denn der Bezirk Mitte ist nicht nur der „vielfältigste und bunteste in Hamburg“ (Dirk Sielmann, SPD, Vorsitzender der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte): Die insgesamt 19 Stadtteile, das Herz der Hansestadt, bieten auch die größten sozialen Spannungsfelder, die sich sogar innerhalb eines Quartiers, von der einen Straßenseite zur anderen, auftun können. In keinem anderen Bezirk klafft die soziale Schere so weit auseinander, existieren mehr „Problemviertel“ (im Osten werden dabei stets Billstedt, Horn und Jenfeld, südlich der Elbe Wilhelmsburg, und im innerstädtischen Bereich St. Pauli und Dulsberg genannt). Im flächenmäßig drittgrößten Bezirk (von seiner Population her der zweitgrößte der Stadt), leben rund 35 Prozent der Menschen in Quartieren, die nach den Daten des jüngsten „Sozialatlasses“ der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt aus dem Jahre 2012, einen „sehr niedrigen Status“ und damit eine „negative Dynamik“ aufweisen (Hamburg gesamt: zwölf Prozent). Hier gelten überproportional viele Bürgerinnen und Bürger als „von Armut bedroht“ – sie verdienen gerade mal 15.000 Euro im Jahr. Auf der anderen Seite laufen jedoch im Bezirk Mitte die Jobmotoren der Stadt (zum Beispiel Airbus), öffnet sich die Welt des Luxus und der Moden mit ihren Glitzerfassaden (Neustadt), spielt sich das kreative, künstlerische, kulturelle Leben ab, brummen der Hamburg-Tourismus, das Hotel- und Gastronomiegewerbe.

In Hamburg-Mitte leben auch überdurchschnittlich viele Singles (die größte Gruppe der allein erziehenden Mütter) – sowie überdurchschnittlich viele Ausländer. 45 Prozent der rund 300.000 Bewohner haben einen Migrationshintergrund (55,8 Prozent sind es gar in Billbrook, fast 70 Prozent auf der Veddel). Damit liegt ihr Anteil deutlich über dem Hamburger Durchschnitt, der rund 29 Prozent beträgt. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen und Vorhaben, die die den Bezirk vor große Herausforderungen stellen; ein „Integrationsbeirat“, vor einem Jahr ins Leben gerufen, soll den Dialog der Menschen im Bezirk vertiefen und verbessern.

Diese recht komplizierte soziale Gemengelage kann man natürlich auch sozialromantisch betrachten. Dann handelt es sich plötzlich „um lauter einzelne kleine Mosaiksteine, die ein buntes, pulsierendes, vielfältiges und äußerst lebenswertes Gesamtbild ergeben.“ So preist sich der Bezirk Mitte selbst in seiner veröffentlichten „Bürgerinformation 2012/2013“.

Insgesamt möchte Andy Grote „seinen“ Bezirk, der im Jahre 2010 von der Bundesregierung den offiziellen Titel „Ort der Vielfalt“ verliehen bekam (eine Initiative zur Stärkung der kulturellen Vielfalt), für alle Hamburger und Gäste erlebbarer machen: „Die Wasserwege, die vielen Kanäle die wir haben, müssen mehr in den Fokus für die Freizeitgestaltung rücken. Diese sind perfekte Naherholungsgebiete“, sagt er. Außerdem will er noch mehr Grünanlagen im Bezirk schaffen. Sieben Naturschutzgebiete gibt es bereits im Bezirk Mitte, dazu kommt noch der Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer, mit dem sich an dieser Stelle der Kreis zur Insel Neuwerk schließt. Und dann existieren noch 25 Hundewiesen. Auch die sind schön grün, aber in der Regel vermint. So wie die Kommunalpolitik.