Ob Pfannkuchen, Onlinespiele oder Versicherungen: Schon 130 Firmen aus dem Osten sind an der Alster. Und es werden jedes Jahr mehr.

Hamburg. Für fast alle der 124 Beschäftigten der Sietas-Werft dürfte ihr Retter bis vor ein paar Monaten ein völlig unbeschriebenes Blatt gewesen sein. Pella Shipyard aus Otradnoye bei St. Petersburg übernimmt vom 10.März an Deutschlands älteste Werft mit Sitz in Neuenfelde. Das insolvente Schiffbauunternehmen scheint wieder in ruhigere Fahrwasser zu steuern. Die Belegschaft soll bis 2016 auf 400 Mitarbeiter mehr als verdreifacht werden. Damit könnte die Pella Sietas GmbH zum wohl größten Unternehmen in der Hansestadt aufsteigen, das aus Russland geführt wird. Etwa 130 russischstämmige Firmen sind nach Auskunft der Hamburgischen Gesellschaft für Wirtschaftsförderung (HWF) derzeit in der Hansestadt tätig. „Jährlich kommen seit 2010 etwa 13 bis 14 Unternehmen nach Hamburg“, sagt Ewgenij Narodetski, Projektleiter für Osteuropa. Allein in den ersten sechs Wochen des Jahres 2014 waren es drei.

Für die Ansiedlung russischer Firmen in Hamburg sind laut Narodetski vor allem zwei Gründe entscheidend. Die Hansestadt wird als lebenswerte Metropole geschätzt, deren Bewohner eine hohe Kaufkraft haben, und als Logistikzentrum mit dem Hafen als Drehscheibe. Ein weiterer Vorteil ergebe sich aus der Städtepartnerschaft mit St. Petersburg. Rund 80 bis 85 Prozent aller russischstämmigen Firmen in Hamburg seien Klein- und Familienunternehmen, sagt Narodetski. Sie decken die Branchen Bau, Handel, Anlagen- und Maschinenbau, IT, Spedition und Logistik sowie Gastronomie ab. Das Abendblatt stellt fünf Firmen vor:

Dovgan – der Lebensmittelhändler

Seit 1998 sitzt Dovgan Russische Küche in Hamburg und ist laut Homepage der europaweit größte Großhändler für russische Lebensmittel. Die Gesellschaft importiert Hunderte von landestypischen Spezialitäten wie Kaviar, Wodka, Borschtsch, gezuckerte Kondensmilch, Riga Sprotten, Tiefkühlkost, Matroschka-Eis und Süßigkeiten. Auch polnische und rumänische Produkte führt das Unternehmen aus Billbrook ein. Von dort werden die Produkte innerhalb Deutschlands verteilt, an Großabnehmer wie Metro, Galeria Kaufhof, Edeka und Rewe geliefert und seit 2003 auch in andere westeuropäische Länder exportiert. Die Hansestadt sei dafür der „ideale Standort“, sagt Geschäftsführer Andre Kowalew: „Diese Stadt verzaubert jeden, der einmal in Hamburg war, insbesondere einen Geschäftsmann aus der Partnerstadt St. Petersburg.“ Das Unternehmen am Zinkhüttenweg hat 30 Büroangestellte und 15 Lagerarbeiter. Der Umsatz lag im vergangenen Jahr bei mehr als 30 Millionen Euro und habe sich in den vergangenen drei Jahren um 15 bis 20 Prozent pro Jahr gesteigert, sagt Kowalew.

Intenium – Entwickler von Frauenspielen

Über ein von der Handelskammer und dem Senat organisiertes, dreimonatiges Wirtschaftspraktikum bei einer Softwarefirma kam Konstantin Nikulin 1997 nach Hamburg. Er ging zurück, baute in Kaliningrad die Computerspielefirma Intenium auf und kam im Jahr 2000 erneut an die Elbe. „Wenn man in Deutschland Geschäfte machen will, braucht man ein Unternehmen vor Ort“, sagt der 43-Jährige. Im früheren Königsberg designen und programmieren die 27 Mitarbeiter die Spiele, die zu 82 Prozent von Frauen gespielt werden, die älter als 30 Jahre alt sind. Die Ideen für die Spiele, die Vermarktung und der Vertrieb liegt in den Händen der 40 Mitarbeiter an der Stresemannstraße. „Wir sind in kleinen Schritten gewachsen und wollen das auch weiterhin tun“, sagt Nikulin. Zu den Geschäftszahlen möchte er nichts sagen, nur dass alle Spielerinnen zusammen im Monat 500 Jahre mit den Intenium-Spielen verbringen. Das beliebteste Spiel sei Bonga-Online, bei dem die Spielerin Anführerin eines kleinen Stamms auf einer tropischen Insel ist.

Sovag – der Versicherer

Seit gut 90 Jahren ist die Schwarzmeer und Ostsee Versicherungs-Aktiengesellschaft Sovag im Handelsregister Hamburgs eingetragen. Der Schwerpunkt lag damals in der Versicherung von Warentransporten zwischen der Sowjetunion und Westeuropa. Heute bietet das Unternehmen, dessen Hauptaktionär der russische Versicherungskonzern Sogaz ist, abgesehen von Lebensversicherungen eine breite Palette von Policen zum Beispiel für Autos und Gebäude an. Bevorzugte Kunden sind zum einen westliche Firmen, die sich in der ehemaligen Sowjetunion engagieren wollen, und zum anderen Unternehmen aus Osteuropa, die sich international aufstellen wollen. In der Zentrale an der Schwanenwik arbeiten rund 50 der insgesamt 120 Mitarbeiter, der Rest agiert von Büros in Berlin, Köln, Wien, London und Moskau aus.

Chandler – der Logistiker

Kraftwerksblöcke, chemische Öfen, Asphaltmischanlagen, neue Lastwagen oder Busse – wenn große Einheiten von oder nach Russland transportiert werden müssen, kommen die Logistikexperten von Chandler ins Spiel. Gegründet 1996 in St. Petersburg wurde der Firmensitz 2004 in die Partnerstadt verlegt. Vom Mittelweg aus organisiert das gut 100 Mitarbeiter große Unternehmen, das auch im Bereich erneuerbare Energien und Bau tätig ist, Transporte zwischen Ost und West. 27 Mitarbeiter sind in Harvestehude beschäftigt, daneben gibt es zehn weitere Büros in Europa, Asien und Nordamerika. Im vergangenen Jahr seien die Transportaufträge um 30 Prozent gestiegen, teilte das Unternehmen auf Anfrage mit.

Nicht jede Unternehmensgründung ist im Übrigen dauerhaft von Erfolg gekrönt. Mail.ru beschäftigte zu Spitzenzeiten im Büro in Hammerbrook mehr als 60 Mitarbeiter, die in Russland und Asien programmierte Onlinespiele auf den hiesigen Markt anpassten. Ende März wird das Unternehmen, das 2010 Schlagzeilen durch die 500 Millionen Dollar schwere Beteiligung am US-Konzern Facebook machte, die Hamburger Filiale schließen. Es hieß, man plane, „anderenorts eine neue Niederlassung aufzubauen“.

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem größten Flächenland der Erde und Hamburg haben eine lange Tradition. Bis ins 13.Jahrhundert reichen die Verbindungen in das einstige Zarenreich zurück, zu Zeiten der Hanse wurde bis nach Nowgorod gehandelt. Nach dem Einbruch während der Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat sich der Außenhandel zuletzt wieder deutlich belebt. Im Jahr 2012 exportierten Hamburger Firmen nach Russland Güter für 715 Millionen Euro, eine Steigerung im Vergleich zu 2010 um 45,6 Prozent. Den größten Anteil nimmt die Gruppe „Sonstige Fahrzeuge“ ein, die dank des Flugzeugbauers Airbus 28 Prozent zur Gesamtausfuhr beisteuert. Es folgen Kokerei- und Mineralölerzeugnisse mit einem Viertel und Maschinen mit 16 Prozent. Der Import russischer Produkte an Alster und Elbe stieg im gleichen Zeitraum um 15,8 Prozent auf 2,357 Milliarden Euro. Gefragt waren hier vor allem Kokerei- und Mineralölerzeugnisse mit 55 Prozent, vor Metallen mit 20 Prozent, Kohle mit 13 Prozent und Erdöl/-gas mit zehn Prozent.