Teil 5: Meist sind es Mädchen in der Pubertät und junge Frauen, die erkranken. Die gesundheitlichen Folgen können gravierend sein.

Carolin und Luisa M.* hatten dem Ereignis lange entgegengefiebert: Die 16- und 17-jährigen Schwestern durften für ein halbes Jahr nach Frankreich, als Austauschschülerinnen. Sie würden in einer Gastfamilie in einem schönen Wohnviertel von Paris leben und eine anspruchvolle Schule besuchen, um dort ihre Sprachkenntnisse aufzupolieren. Doch die Begeisterung war schnell verflogen: In der Gastfamilie gab es Konflikte mit der Tochter, die Mitschüler waren kühl. Die Mädchen wollten zurück nach Hause. Doch die Eltern sagten Nein. Sie sollten durchhalten, das Projekt sei doch ihr Traum gewesen! Man könne nicht immer gleich die Flinte ins Korn werfen, wenn es nicht so liefe, sagte Vater Ronald M.*, erfolgreicher Anwalt. Doch nach vielen tränenreichen Telefonaten kamen die Mädchen nach gut drei Monaten wieder zurück nach Hamburg - blass und schmal, statt aufgedreht und abenteuerlustig, so wie das einmal geplant war.

Die Stimmung besserte sich auch zu Hause nicht. Die Schwestern stocherten lustlos im Essen herum und reagierten patzig, wenn die Mutter sie aufforderte, doch wenigstens einen Happen zu essen. Der Hausarzt und eine Beratungsstelle wurden konsultiert. Der Verdacht einer Anorexia nervosa, Magersucht, bestätigte sich.

Magersucht ist - ebenso wie Bulimia nervosa (Essbrechsucht) und Binge-eating-disorder (Esssucht) eine Essstörung, erklärt Imke Neemann, Leitende Ärztin für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Die Klinik bietet seit dem Jahr 2000 ein spezialisiertes Therapieangebot für Mädchen mit Essstörungen. "Magersucht ist vor allem eine Krankheit der Mädchen", sagt Imke Neemann.

Das Erkrankungsrisiko liegt für Essstörungen insgesamt, auf die Lebenszeit gerechnet, bei 0,8 bis 1,5 Prozent. Danach wären in Hamburg bis zu 27.000 Menschen betroffen. Das größte Risiko haben heranwachsende Mädchen, wenn der Körper fraulich wird, von 15 bis 19 Jahren. Doch die Zahl der Mädchen, die bereits vor der Pubertät erkranken, nimmt zu. Es sind sogar Fälle bekannt, in denen Kinder von acht oder neun Jahren magersüchtig waren.

Die Krankheit tritt bei Mädchen acht- bis zwölfmal häufiger auf als bei Jungen. Insgesamt dauert es oft lange, bis die jungen Menschen in eine geeignete Therapie kommen, weil in den Familien die Probleme als Erscheinungen der Pubertät verkannt werden. "Es sind oft kluge, ehrgeizige Mädchen, gute Schülerinnen aus einem fürsorglichen, fördernden Zuhause, die erkranken", sagt Neemann. Der Wert Familie und das Bedürfnis nach Harmonie und Nähe sind in diesen Familien hoch. Kontroverse Diskussionen, in denen jeder seine Position vertritt, fallen nicht so leicht. Fragt man die Betroffenen nach dem Grund, können das oft weder Kinder noch Eltern beantworten.

Bei der Magersucht entwickelt sich oft eine Spirale: Die Kinder essen weniger, konzentrieren sich auf Joghurt, Gurken oder Möhren, dazu kommt häufig ein ausgeprägter Bewegungsdrang. Das gesamte Denken und Fühlen beschränkt sich auf das Essen - oder besser das Nichtessen -, und auf die Angst vor dem Zunehmen. Hinzu kommt eine nicht mehr realistische Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers. Spaß am Leben, vielseitige Interessen und die Freundschaften verlieren sich.

Ursachen der Magersucht sind eine komplexe Mischung aus biologischen und genetischen Faktoren, darüber hinaus aber auch aus Familienthemen, entwicklungspsychologischen Faktoren, soziokulturelle Bedingungen, Konflikten, akuten oder chronischen Belastungen. Essstörungen sind gefährlich: Bei der Magersucht kann das Untergewicht, bei der Bulimie das häufige Erbrechen körperliche und psychische Folgeerkrankungen wie zum Beispiel gravierende Herz-/Kreislaufdysregulationen auslösen. Weitere mögliche Folgen der Essstörungen sind Zahnschädigungen, Entzündungen des Verdauungstraktes, hormonelle Probleme, Entwicklungsverzögerungen, Osteoporose (Knochenbrüchigkeit). Mehr als jede zehnte Patientin stirbt laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung an der Magersucht.

"Der Beginn des Hungerns ist eine Verschiebung von Problemen auf die scheinbar kontrollierbareren Themen des eigenen Körpers und Essens. In der Behandlung geht es sowohl darum, das Essen wieder zu erlernen, als auch darum, sich mit dem eigenen Körper anzufreunden", erklärt Neemann. Trotz umfassender wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung spezialisierter Behandlungskonzepte kommt es immer noch bei knapp einem Viertel der betroffenen Mädchen und Frauen zu einer Chronifizierung der Erkrankung.

Je eher die Betroffenen eine spezifische Behandlung erfahren, desto besser sind die Aussichten, sagt Neemann. Immerhin: Jede zweite Patientin oder jeder zweite Patient gesundet. Was die Gefahren der Erkrankung angeht, so empfinden die Betroffenen diese oft lange nicht. Sie können nicht sehen, dass sie krank sind oder sind hin- und hergerissen zwischen der Panik, Gewicht zuzunehmen, und dem Wunsch nach einer Behandlung. "Sie müssen in der Therapie erst Gewicht zunehmen, bis sie wieder frei denken und fühlen und sich dann mit Gründen und Folgen ihrer Krankheit beschäftigen können." Dann lassen sie sich auf Psychotherapie, Gruppentherapie, Familientherapie, Kunsttherapie und Bewegungstherapie besser ein. Parallel brauchen die Betroffenen viel Unterstützung, um das Essen wieder zu lernen und mit der Verantwortung für diesen Lebensbereich wieder selbstverantwortlich und fürsorglich umzugehen. Im gefährdend niedrigen Gewichtsbereich beginnt das zunächst mit kleinen Portionen, Trinknahrung und in ernsten Fällen per Magensonde. Das Ziel: Ein Pfund pro Woche muss auf die Rippen.

Nach der etwa viermonatigen Therapie ist zu Hause Normalität wichtig. Viele entscheiden sich, weiter Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Um Eltern und Betroffenen Sicherheit zu geben, macht es Sinn, dass sich die Jugendlichen regelmäßig bei ihrem Haus- oder Kinderarzt wiegen lassen.

Bulimie, die zweite ebenso weit verbreitete Essstörung, die Essbrechsucht, betrifft eher die jungen Frauen im Alter von 18 bis 19 Jahren. Hier gibt es eine hohe Dunkelziffer, weil sich die Patientinnen wegen des Teufelskreises aus Heißhungerattacken und Erbrechen schämen. Der Weg in die Behandlung ist dadurch schwer.

* Namen von der Redaktion geändert