Das Herz hämmert, der Schweiß fließt - krankhafte Furcht kann den Alltag stark einschränken. Eine Verhaltenstherapie kann helfen.

Fast eine Stunde lang stand Silke Schilling* vor dem Haus ihrer Eltern und kämpfte mit den Tränen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die schwarze Spinne, die neben der Eingangstür hing, war so klein wie ein Fingernagel und harmlos, wie alle ihre Artgenossen hierzulande. Doch Schilling schaffte es nicht, an dem Tier vorbeizugehen. Irgendwann rief sie mit dem Handy ihren Vater an, der ihr öffnete.17 Jahre alt war sie damals.

Ihre Angst zeigte sich aber schon früher. Immer kam es zur gleichen Reaktion, wenn sie eine Spinne sah: Das Herz begann wild zu klopfen, der Atem ging stoßweise, Panik machte sich breit. "Die tun doch nichts", sagten Freunde, doch nüchterne Argumente drangen in solchen Momenten nicht zu Silke Schilling durch. "Mein Verstand schaltete komplett ab", erzählt sie.

Jeder Mensch hat hin und wieder Angst. Und das ist gut so. Denn dieses vom sogenannten Mandelkern im Gehirn ausgelöste Gefühl dient als wichtige Warninstanz: Es weist uns auf mögliche Gefahren hin. Etwa beim Autofahren: Wenn die Rücklichter des Autos vor uns rot aufleuchten, treten wir sofort auf die Bremse. "Problematisch wird Angst, wenn sie übersteigert auftritt", sagt Prof. Michael Sadre-Chirazi-Stark, Chefarzt der Psychiatrie am Asklepios Westklinikum Hamburg. "Wenn ein Mensch bei jedem Hund denkt, dieser könnte ihn beißen, wenn jemand Aufzüge meidet und stattdessen fünfzehn Stockwerke zu Fuß geht, wenn jemand nicht mehr über Brücken fährt und nicht durch Tunnel hindurch, sich nicht mehr ins Flugzeug setzt, dann wird die Angst zur Störung."

Fachleute unterscheiden bei Angststörungen zwischen gerichteter und ungerichteter Angst. Gerichtete Ängste, auch Phobien genannt, treten gegenüber bestimmten Objekten auf - etwa Spinnen - oder in bestimmten Situationen, etwa im Umgang mit anderen Menschen, in engen Räumen oder auf weiten Plätzen. Ungerichtete Ängste hingegen haben keinen bestimmten Auslöser, sie treten plötzlich auf (dann werden sie als Panikstörung bezeichnet) oder dauerhaft bei der generalisierten Angststörung: Betroffene trauen sich im Extremfall nicht mehr aus dem Haus, weil sie überall Gefahren sehen.

Angststörungen können verschiedene Ursachen haben. Manche Menschen "erlernen" die Angst, zum Beispiel im Flugzeug: Bisher erschien ihnen das Fliegen als ungefährlich, kommt es jedoch zu schweren Turbulenzen, verspüren sie Angst. Diese hält sie davon ab, erneut ein Flugzeug zu benutzen. Psychischer Langzeitstress kann ebenfalls Angststörungen auslösen. Wer etwa im Beruf immer wieder schlecht vorbereitet an Sitzungen teilnehmen muss und damit negativ auffällt, könnte zunehmend Angst vor dieser Situation haben. Bei manchen Menschen kommt es womöglich auch zu Angststörungen, weil sie in ihrer Kindheit nicht gelernt haben, mit Ängsten umzugehen. Zudem gehen Fachleute davon aus, dass Menschen mit Angststörungen leichter reizbar sind, weil ihr autonomes Nervensystem - das zum Beispiel Herz und Atmung kontrolliert - leichter erregbar ist. Und schließlich kommen auch Medikamente und Drogen als Auslöser infrage.

Ob eine Behandlung nötig ist, sollten Betroffene davon abhängig machen, wie sehr die Angststörung ihr Leben beeinträchtigt, sagt Michael Stark. Wer nur für Urlaubsreisen ins Flugzeug steigen muss, aber gar nicht ins Ausland reisen möchte, dem kann seine Flugangst egal sein. Wer aber befördert wurde und an internationalen Treffen teilnehmen muss, hat ein großes Problem, wenn er sich nicht ins Flugzeug traut.

Für Silke Schilling war die Angst vor Spinnen während ihrer Kindheit noch kein allzu großes Problem. Das änderte sich, als sie erwachsen wurde. Mit 22 Jahren begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Damals musste sie ein Praktikum auf einer psychiatrischen Station machen. Als dort eine Spinne über den Flur lief, wäre sie fast durchgedreht; zum Glück kam gerade eine Psychiaterin vorbei. Sie erzählte der jungen Frau von Verhaltenstherapien, sagte aber auch: "Irgendwann werden sie dabei mit einer Spinne konfrontiert." Das machte Schilling wieder Angst; sie verschob die Behandlung.

Heute, fünf Jahre später, will sie die Einschränkungen ihres Alltags nicht mehr hinnehmen. Etwa im Nachtdienst, wenn sie alleine auf ihrer Station ist. Begegnet sie dann einer Spinne, muss die Krankenschwester die Hauptnachtwache rufen, die das Tier entfernt. "Das ist mir sehr peinlich", sagt Schilling. 2012 rang sie sich zu einer Verhaltenstherapie durch. Seitdem hat die 27-Jährige große Fortschritte gemacht.

Ermutigt durch eine Therapeutin in der psychiatrischen Institutsambulanz Altona, setzt sich Schilling in kleinen Schritten ihrer Angst aus. Dazu muss sie Hausaufgaben bewältigen. Als Erstes sollte Schilling einen Vortrag über Spinnen erarbeiten - welche Arten gibt es, wie spinnen die Tiere ihre Netze und so weiter. Das funktionierte gut, weil Schilling sich dafür keine Bilder anschauen musste. Die zweite Aufgabe ging schief: Sie sollte Bilder von Spinnen so lange anschauen, bis ihr kein Schauer mehr über den Rücken lief. Also suchte sie mit ihrem Smartphone im Internet nach Spinnenbildern. Kaum tauchten die ersten Krabbeltiere auf dem Display auf, schleuderte sie das Smartphone entsetzt von sich und rührte es nicht mehr an, bis ihr Vater den Browser schloss und dabei half, die Bilder auszudrucken. Mit ihm an ihrer Seite gewöhnte sie sich an die Bilder.

Vor Kurzem brachte ihre Therapeutin eine Plastikspinne mit. Wieder war Schilling geschockt, aber nur kurz. Nun sitzt die Spinne in ihrem Auto auf dem Armaturenbrett, "als Zeichen, wie sehr ich mich schon verbessert habe". Inzwischen schafft sie es fünf Minuten im Keller zu stehen und die Spinnen in den Ecken zu betrachten. Dabei atmet sie tief ein und aus und sagt sich: Ich kann das! Diese Entspannungstechnik hat sie bei der Therapie gelernt.

Mit der Therapeutin hat Schilling nun ein weiteres Ziel festgelegt: Sie soll zelten. Das hat sie sich nie getraut, aus Angst vor Spinnen, die auf dem Boden herumkreuchen könnten. Im Juni soll es so weit sein, dann will sie zu Rock am Ring fahren. Bands wie "The Killers", und "Bush" werden bei dem dreitägigen Festival am Nürburgring auftreten. Und Schilling will nicht nur mitrocken, sondern auch auf dem Gelände übernachten, ganz entspannt. "Das schaffe ich jetzt auch noch", sagt sie.

* Name von der Redaktion geändert