Hamburg. Zu Besuch bei Existenzgründerinnen und rebellischen Jugendlichen. So bunt wie die Umgebung sind auch die Menschen, die zusteigen.

Reisereportagen führen Journalisten meist in ferne Länder. In unserer Serie reicht hingegen ein HVV-Ticket - denn die Reiserouten sind die U- und S-Bahnlinien der Stadt. Auch dort gibt es viel zu sehen und zu entdecken: kleine Dinge, die wir im Alltag meist nicht beachten; kleine Geschichten aus den Waggons, Haltestellen und Bahnhöfen Hamburgs und ihrer Umgebung. Heute: Die S 1

Meine Reise beginnt auf dem Laufsteg. So nennt zumindest die Deutsche Bahn eine fünf Meter lange Bretterbrücke, die über das Gleis zur S-Bahn-Haltestelle Poppenbüttel führt. Neben der Erläuterung, dass der Umbau der Zugangstreppe noch bis zum Herbst dauern wird, prangt auf dem Plakat eine Karikatur, die wohl Karl Lagerfeld darstellen soll, mit grauem Jackett, schwarzen Handschuhen, Sonnenbrille und schlohweißem Zopf - und einer roten Schweinchennase. Die Strategen der Bahn finden die Idee wohl originell und witzig. Bei den Poppenbüttelern will an diesem Morgen keine heitere Stimmung aufkommen, werden sie doch vom Kreischen einer Flex begrüßt. Also hasten sie vorbei an Schweinchen Lustig und hinein in den Zug. Schnell hinterher.

Wellingsbüttel - Kornweg

+++ Die S 1 - in 72 Minuten von Wedel nach Poppenbüttel +++

+++ Leihautos und Fahrräder bei der Hamburger Hochbahn +++

Wie wohltuend ist dagegen die Fahrt durch Wellingsbüttel. Alte Eichen säumen die Strecke, dichtes Blätterwerk wölbt sich über die Gleise. Und immer wieder blitzen Sonnenstrahlen auf. Es ist endlich Sommer in Hamburg. Die meisten im Zug tragen T-Shirts und kurze Hosen und Röcke. Die lärmende Baustelle ist hier fast vergessen.

Ohlsdorf

Der Geruch von frischen Brötchen, geschmolzenem Käse und Schinken zieht mich aus der Bahn. Als ich den Imbiss zwischen den Gleisen ansteuere, kommen im Schnellschritt zwei Polizisten auf mich zu - und eilen weiter. "Ganz vorne, an der Spitze des Gleises", schallt es aus ihrem Funkgerät. Der Grund für die Aufregung trägt Sonnenbrille und Dreitagebart. Thomas, so stellt er sich den Beamten vor, ist wohl Mitte 20 - und Schwarzfahrer. Als ich weiterfahre, sehe ich, wie die Beamten ihn abführen.

Alte Wöhr

Hagebutten und Brombeersträucher ragen auf den Weg, der zum Stadtpark führt. Doch bis dorthin komme ich nicht, weil ein gelbes Schild an einem schmalen Aufgang meine Neugierde weckt. Es zeigt eine Hand, die vielen Händen ein Blatt entgegenstreckt. "Eden für Jeden", steht darauf. Weitere Protestbekundungen führen mich in eine Kleingartensiedlung. "Gartenträume statt Investorenträume!!!" - "Unsere HEIMAT soll nicht zerstört werden!" Sie hängen an Zäunen und Laternen, zwischen Rosen und Hortensien. Die Anlage erinnert an ein Bataillon.

Im Garten ihrer Parzelle sitzen Helga und Norbert Bathke, sie sind 73 und 62 Jahre alt; sie wirken nicht kampfbereit. "Eigentlich haben wir resigniert", sagt Helga. "Jeden Tag könnte die Kündigung im Briefkasten liegen." Seit November 1959 lebe sie hier - fest, wohlgemerkt - wie acht weitere Bewohner der Siedlung, die aus 330 Grundstücken besteht. Helga Bathke arbeitete als Verkäuferin, Briefträgerin, Putzfrau; sie hat drei Kinder. Norbert, der 1990 einzog, war Transportfahrer für Altenheime. Ihr Häuschen hat drei Zimmer, es ist ihr Kleinod. Auf dem Rasen steht ein hellblaues Planschbecken, daneben trocknet Wäsche. Luzifer, ein schwarzer Kater, und Mischlingshund Pico leisten den beiden Rentnern Gesellschaft. Ab Ende 2014 sollen auf einem Teil des Areals der Siedlung 1350 Wohnungen gebaut werden, für das sogenannte Hebebrandt-Quartier. Ihr Haus gehört den Bathkes, ihr Grundstück der Stadt. Das ist ihr Problem. Sie würden wohl eine Entschädigung bekommen und Hilfe bei der Wohnungssuche. "Ich mag nicht daran denken", sagt Helga Bathke.

Wandsbeker Chaussee

"Rebel Youth 2012" steht auf einem Band aus Graffiti, das sich bis in die Unterführung an der Haltestelle erstreckt. Ich steige aus und mache mich auf die Suche nach der "Rebellen-Jugend", finde sie aber nicht. Wahrscheinlich ist sie im Freibad. Oder nur nachts unterwegs.

Hauptbahnhof

Abschied und Aufbruch. Ankunft und Wiedersehen. Freude und Frust. Trauer und Glück. Verliebte, Gestresste, Gestrauchelte. Große und Kleine. Nähe und Distanz. Flüstern. Schluchzen. Lachen. Lallen. Gebrüll. Klassische Musik. Pommes. Hamburger. Erdbeershakes. Schnaps. Parfüm. Schweiß. Urin.

Jungfernstieg - Reeperbahn

Das Schöne an der S 1 ist, dass sie größtenteils oberirdisch fährt. So bunt wie die Umgebung sind auch die Menschen, die zusteigen. Es ist die vielleicht beste Strecke, um ein Gefühl für Hamburgs Vielfalt zu bekommen. So gesehen schade, dass die S 1 ausgerechnet vor dem Zentrum abtaucht in den Bauch der Stadt, wie alle S-Bahnen. Denn wenn man gerade jetzt in Gedanken ist, kann das dazu führen, dass man den Ausstieg verpasst - und damit einige der schönsten Sehenswürdigkeiten: Rathaus, Jungfernstieg und Binnenalster, den Hafen. So geht es mir an diesem Tag: Ehe ich mich versehe, fährt mein Zug in die Station Reeperbahn ein. Also zurück, zumindest zu den Landungsbrücken. Der Hafen und seine Schiffe, mal ohne Wolken, mit Sonne, bei 26 Grad - es wäre ein Frevel, sich diesen seltenen Anblick entgehen zu lassen.

Königstraße

Kein Ahnung, warum ich an dieser dunkelbraun gefliesten Station aussteige. Malin nennt es Schicksal. "Gott hat meine Stimme gehört", sagt sie. Ihr Geschäft liegt im Erdgeschoss eines neunstöckigen Hochhauses auf der anderen Straßenseite gegenüber der S-Bahn-Haltestelle. Früher war dort eine Kneipe, jetzt stapelt sich auf etwa 15 Quadratmetern - nun ja, fast alles: Geschenkkarten, Tassen, Kochbücher, Wasser und Wein, Regenschirme, Binden, Modeschmuck, Zimmerpflanzen; manches wirkt kitschig, alles ist liebevoll arrangiert. Es gibt Saures, selbst gebackenen Kuchen und Eis in der Waffel. Kiosk, Café, Eisdiele und Minisupermarkt in einem. "Tante-Emma-Laden" werde er heißen, sagt Malin. Das Schild sei noch nicht fertig, sie habe erst vor einem Monat eröffnet. Beteiligt ist ihre Cousine Ellen. Nur sie solle aufs Foto, bestimmt Malin. "Ich bin dafür zu alt." Wie alt, will sie nicht verraten.

Sie seien italienisch-armenischer Abstammung, erzählt sie, zuletzt hätten sie 20 Jahre in Münster gelebt. "Für die Liebe" sei sie vor drei Monaten in die Hansestadt gekommen, sagt Malin. Ihr Freund habe hier Arbeit gefunden. Noch laufe es nicht so gut. "Wir hoffen auf Laufkunden von der S-Bahn." Trotz Wirtschaftskrise sollten die Leute auch die kleinen Läden unterstützen, findet sie. Aber jetzt werde ja das Abendblatt berichten. "Warum sollten wir es nicht schaffen?", fragt Malin.

Blankenese

Wer im Treppenviertel lebt, hat es geschafft, jedenfalls wohl in den Augen von Malin. Gut 800 Meter geht man von der S-Bahn-Haltestelle dorthin, aber der Weg lohnt sich, besonders unter der Woche, wenn nur wenige Touristen durch die verwinkelten Gassen am Elbhang streifen.

Ich war zuletzt vor fünf Jahren hier, aber an meinen Vorsätzen hat sich nichts geändert: Irgendwann wirst du hier ein Haus haben, sage ich mir, irgendwann, ganz bestimmt. Bloß: Wie stelle ich das an? Mal nachfragen. Geld sei natürlich obligatorisch, genüge aber nicht, erläutern mir Handwerker, die im Paarmanns Weg eine ockerfarbene Villa aus dem 19. Jahrhundert renovieren. "Sie müssen hierherkommen und jemanden kennen." Das heißt also: Man muss doppelt arbeiten, um der Treppenviertel-Gemeinde beitreten zu dürfen. Ist es das wert?

Mit solchen Überlegungen haben Felix Lemcke, 17, und Erik Pegel, 14, nichts am Hut. Die beiden kommen aus Schwerin, sie haben am Fuß des Elbhangs ihre Zelte aufgebaut, mit mehr als 100 anderen Jugendlichen, die an der deutschen Jugendmeisterschaft für 420er-Jollen teilnehmen. Diese findet im Mühlenberger Loch statt, einer Bucht südlich des Hauptstroms der Elbe. Gerade ist Ebbe und deshalb Pause. Felix isst ein Stück Salamipizza. Wie ihre Chancen stehen? Er lehnt sich in seinem Liegestuhl zurück und sagt lässig: "Mal sehen, wie es läuft." Vom Treppenviertel nehmen die Jungs keine Notiz.

15.30 Uhr. Mir ist inzwischen so heiß geworden, dass ich auf dem Rückweg durch die Blankeneser Bahnhofstraße erst im letzten Moment bemerke, dass es sich bei dem vermeintlichen Teppich vor einem Geschäft um zwei dösende grau-weiße Terrier handelt. Auf einem Supermarkt-Plakat lese ich statt "backfrisch" "Backfisch". Ich muss etwas essen. Es wird eine Pizza.

Endstation: Wedel

Wedel ist jetzt 800 Jahre alt. Davon kündet ein weißes Banner über dem Eingang des alten Rathauses. Zur Feier des Jubiläums haben die Stadtoberen den Vorplatz mit roten Dahlien und Purpurglöckchen dekorieren lassen. Das wäre nicht nötig gewesen, jedenfalls nicht für Karin Stoffel. Sie sei auch so glücklich hier. "Ich darf wohnen, wo andere Urlaub machen", sagt die 70-Jährige und spielt damit auf Attraktionen wie Norddeutschlands größten Yachthafen und das Naturschutzgebiet Wedeler Marsch an.

Die Rentnerin sitzt im Schatten einer alten Buche. Aus ihrer Handtasche lugt eine Packung mit Toasts hervor, sie war gerade einkaufen. Früher habe sie im Archiv des Rathauses gearbeitet, außerdem als Floristin und als Kontoristin. Ihre drei Kinder seien lange aus dem Haus. Langweilig werde ihr aber nicht: "Musik hören, Spazierengehen, Briefe an Freunde schreiben - ich habe genug zu tun." Und wenn ihr doch einmal etwas fehle, fahre sie eben nach Hamburg. Es gibt ja die S 1.