Unser Autor Matthias Iken hat die Ermittlungen intensiv begleitet - der Fall Dennis hat ihn tief verstört.

Es gibt Geschichten, die lassen uns nicht los. Sie verfolgen uns lange Zeit, nehmen uns gefangen, verblassen dann - und tauchen urplötzlich wieder auf. So geht es uns mit guten Büchern. Und es gibt Geschichten, die das Leben schreibt und wir Journalisten aufzeichnen (müssen). Eine solche Geschichte ist für mich die vom Mord an Dennis.

Damals, im September 2001, arbeitete ich als Norddeutschland-Korrespondent für die "Welt" - man begleitete die Politprominenz auf ihren Sommerreisen durchs Wahlland, recherchierte über den Klimawandel an der Nordseeküste oder schrieb über Possen aus der Provinz. Nach dem mysteriösen Verschwinden eines Neunjährigen aus einem Landschulheim schickt die Chefredaktion mich zur Recherche vor Ort. Gemeinsam mit unserem Polizeireporter fahre ich nach Wulsbüttel, dessen Ortsname dem Fall Hohn spricht: Wulsbüttel bedeutet eigentlich eine Zufluchtsstätte im Wald. Doch bei diesem Landschulheim im Wald verliert sich auf rätselhafte Weise die Spur eines kleinen Jungen.

Dennis war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Seltsam: Die Türen des Gebäudes waren über Nacht abgeschlossen, die Fenster verriegelt. Nur in einem Nachbarzimmer war ein Fenster einen Spalt geöffnet, durch den sich der Junge theoretisch hätte ins Freie zwängen können. Noch seltsamer: Von Dennis' Sachen fehlte nichts - weder Schuhe noch eine Jacke, noch andere Kleidung. Er war verschwunden, wie er schlafen gegangen war. Mit einer kurzen, grauen Hose, einem bunten Pyjamaoberteil und ohne Schuhe an den Füßen. Und keiner seiner fünf Klassenkameraden, die mit ihm das Zimmer teilten, hatte irgendetwas bemerkt.

Am Morgen des 11. September 2001 spreche ich mit den Kollegen der Reportage-Seite in Berlin. Heute wollen sie das Stück mitnehmen, ich arbeite letzte Korrekturen ein. Am Nachmittag fliegen islamistische Terroristen in die Türme des World Trade Centers. Wir bauen das Blatt komplett um - nur die Geschichte von Dennis bleibt.

Tagelang gibt es keine Spur des Jungen; zugleich tauchen neue Fälle auf, die Gemeinsamkeiten aufweisen. Wir arbeiten uns im Archiv durch alte Zeitungsmeldungen, suchen, sichten, gewichten. Es ist ein Puzzlespiel des Schreckens - immer neue Teile tauchen auf, es hört nie auf. Ständig neue Schlagzeilen, und immer stellen wir dazu das eine Foto, das einen kleinen blonden Jungen mit seinem Stofftier zeigt. Es ist Dennis. Am 19. September 2001 findet ein Pilzsammler die Leiche eines Jungen in einem Gebüsch nahe einer Kreisstraße in Kirchtimke bei Zeven .

Schließlich veröffentlicht die Polizei ein Bild, das wie ein Schattenriss unserer Urängste aussieht, ein Phantom-Bild: Es zeigt einen schwarz gekleideten Mann von kräftiger Statur. Es zeigt ein Gesicht, verhüllt mit einer Motorradmaske, aus der nur die Augen-, Nasen- und Mundlöcher herausschauen. Es zeigt den Täter. Seitdem die Polizei dieses Phantombild veröffentlicht hat, ist in Nordwest-Niedersachsen die archaische Angst vor dem schwarzen Mann endgültig Realität geworden. Denn das Phantom tauchte schon häufiger in der Region auf - die Beschreibungen für das Bild kamen von einem neunjährigen Jungen, der im Sommer 1999 Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde - ebenfalls in Wulsbüttel, ebenfalls im Landschulheim.

Man fühlt sich wie in einem grausamen Märchen, in dem Unbekannte durch Wände gehen und sich in Luft auflösen, man wähnt sich in einem Horrorfilm. Als Kinder spielten wir "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?". Jetzt spielen wir nicht mehr, jetzt haben wir Angst.

Einige Wochen später besuche ich die 40 Fahnder der Sonderkommission Dennis auf dem Gelände einer Bundeswehrkaserne in Garlstedt bei Osterholz. Es ist die größte Soko in der Geschichte Niedersachsens.

Zu diesem Zeitpunkt haben die Fahnder über 4000 Personen im engeren oder weiteren Sinne mit dem Fall in Verbindung gebracht - Verbindungen, die eine hoch komplexe Software aus anderen Fällen, Hinweisen oder Vorstrafen knüpft. Neben ihrer Arbeit an den Rechnern und Modellen, neben den täglichen Konferenzen gehen die Ermittler immer wieder auf Recherchereisen: Noch immer überprüfen sie Personen aus dem Umfeld der Schullandheime. Zusätzlich zu den Vernehmungen suchen die Ermittler bewusst Kontakte zu Sexualwissenschaftlern, um das Phänomen der Pädophilie besser zu verstehen. "Wir müssen uns in die Haut des Täters hineindenken - da helfen Klischees nicht weiter", sagt der Soko-Chef Uwe Jordan.

Profiler zeichnen ein Täterbild - er muss aus der Region nordwestlich von Bremen kommen, um 1970 geboren sein, lebt vermutlich unauffällig und kann offenbar gut mit Kindern umgehen, vielleicht hat er selber welche, vermuten Experten. Irgendwo da draußen versteckt er sich in seinem Alltag, er ist ungefähr so alt wie ich und kommt aus derselben Region. Es ist gespenstisch. Ausgerechnet in Zeltlagern und Schullandheimen, die Kinder als Sehnsuchtsort großer Freiheit lieben, schleicht sich der Täter ein und sucht seine Opfer.

Man merkt den Beamten an, welchen Knochenjob, was für einen Drecksjob sie machen, welche enorme psychische und physische Belastung auf ihnen lastet. Dieser Fall lässt sie auch nach ihren 60-Stunden-Wochen nicht los. Er verfolgt sie bis nach Hause, bis in den Schlaf, in ihr ganzes Leben.

Das alles beginne ich zu erahnen, weil dieser Fall über zehn Jahre nicht endet - jeder neue Hinweis setzt das Kopfkino in Gang, man ist zurück im schlichten Landschulheim, im schmucken Heimatort des Jungen, im kargen Besprechungszimmer der Soko - und ertappt sich dabei, archaische Rachegelüste gegen den Täter zu entwickeln. Wenn man regelmäßig von Not und Elend schreibt, stumpft man ab, man muss es auch, um die Dinge nicht zu sehr an sich heranzulassen.

Ich bin als Reporter mehrfach an Grenzen gekommen - bei Straßenkindern in Lateinamerika, in der Hamburger Terrormoschee, bei Menschen, die auf dem Müll hausen. Der Mord an Dennis hat mich am stärksten bewegt, er vermag auch heute noch, mir als Journalisten Schauer über den Rücken zu jagen, er lässt mich als Vater frösteln. Nietzsche hatte nicht unrecht: "Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Es tut gut, dass Dennis' Mörder gefasst ist. Wie gut muss es erst den Ermittlern gehen, die es geschafft haben. Endlich.