Artur G. zeigte Zivilcourage, als junge Männer in der S-Bahn einen Fahrgast bedrohten, und wurde schwer verletzt. Er leidet bis heute.

Hamburg. Erst gestern wieder, beim Zeitunglesen, habe er eine Gänsehaut bekommen, erzählt Artur G., 42. Leichten Schwindel habe er gefühlt - und ein kaum näher zu definierendes körperliches Unbehagen. Er las von einer jungen Hamburgerin, die nach einer Bahnfahrt von einem Sitznachbarn verfolgt und später auf dem Heimweg vergewaltigt wurde. Früher, sagt Artur G., habe er solche Nachrichten weitgehend teilnahmslos überblättert. Und gedacht, was so viele denken: So etwas passiert wohl, in einer so großen Stadt wie Hamburg. Für Artur G. ist dieses "Früher" seit dem Neujahrsmorgen endgültig vorbei.

Es war die Nacht, in der der 42-Jährige selbst zum Opfer sinnloser Gewalt wurde. Auf dem Bahnhof Veddel wurde er von drei Jugendlichen bewusstlos geprügelt und schwer verletzt. Seitdem weiß er, wie sich Hilflosigkeit anfühlt. Es ist ein bisschen so, als säße man in einem Tresor, als sei man gefangen hinter meterhohen Mauern. Artur G. berichtet in dem Gespräch in den Räumen des Weissen Rings von seinem Kampf zurück in ein normales Leben. Dieter Behn ist der Mitarbeiter der Opferschutz-Organisation, der ihn betreut.

Denn auch vier Wochen nach der Tat, die bundesweit Betroffenheit und ein gewaltiges Medienecho nach sich zog, ist für Artur G. noch nichts wieder, wie es einmal war. Teile dessen, was am Neujahrsmorgen um 1.20 Uhr und in den nachfolgenden Minuten geschah, weiß der selbstständige IT-Spezialist nur aus der Akte der Polizei. Bei der Prügel-Attacke war er bewusstlos geworden. Die Momente vor den Tritten und Schlägen sind wie eingesogen in ein schwarzes Loch. Einfach weg. Wohl aber erinnert sich Artur G. an das Geschehen, das zur eigentlichen Tat führte. Doch darüber zu erzählen, das fällt ihm sichtlich schwer. Am 29. Dezember war der teils in Polen, teils in Deutschland lebende Vater eines Sohnes nach Hamburg gekommen, um hier den Jahreswechsel mit Teilen der Familie und einer guten Freundin zu verbringen. Im Internet hatte er entdeckt, dass Silvester am Hafen besonders schön sein soll: "Da stand etwas von Schiffshörnern, die um Mitternacht tuten, von Fernweh und einer tollen Atmosphäre", sagt Artur G. Aber es gab nicht mal einen Glühweinstand. Deshalb fuhren der 42-Jährige und seine Bekannte wieder heim. Sie steigen am Hauptbahnhof um in die S 3 in Richtung Harburg. Artur G.: "Als wir einstiegen, sagte ein älterer Herr zu uns, der Waggon sei schon voll. Wir sollten woanders einsteigen." Aber in der Mitte an der Stange war noch ein Stehplatz. Nach Artur G. und seiner Freundin folgten drei junge Männer. Der ältere Herr wiederholte seinen Satz, die jungen Männer widersprachen. Ein Wortwechsel, wohl unter dem Einfluss von Alkohol. In der Folge, binnen weniger Minuten, eskaliert die Situation: Der ältere Herr, so erinnert sich Artur G., sagt irgendetwas über Ausländer, jedenfalls nichts Gutes. Er selbst habe versucht, das zu überhören. Doch die drei Männer, mit Vornamen Amir, Ibrahim und Hüseyin und Inhaber deutscher Pässe, hätten gereizt reagiert. Sie fragen den älteren Herrn, was er glaube, wer seine Rente zahle. Der Wortwechsel wird zum Wortgefecht. Eine etwa 50-jährige Frau in edler Kleidung versucht zu deeskalieren und sagt den jungen Männern, sie sollten den angetrunkenen Herrn nicht so ernst nehmen.

Artur G.s Begleiterin bittet die nun wütenden Männer, den älteren Herrn bitte in Ruhe zu lassen. Schließlich fordert Artur G. sie auf, Respekt vor dem Alter zu wahren. In einer Menschentraube wird er am Bahnhof Veddel aus der Bahn gedrängt. Auf dem Bahnsteig schaut er sich nach seiner Freundin um. Doch erblickt statt ihr die jungen Männer aus dem Zug. Einer schubst ihn, ein anderer tritt ihm gegen das Knie. Der 100-Kilo-Mann fällt hin. Heute ist ihm, als hätte er noch im Fallen nachgeschaut, ob er nicht auf die Gleise stürze. Als er liegt, setzt es Schläge und Tritte.

Das nächste Bild, das Artur G. sah, waren Gesichter, die von oben auf ihn herabblickten. Seine Begleiterin war darunter und Männer mit orangefarbenen Jacken. Statt Panik oder Schmerzen habe er, auf dem kalten Asphalt des Veddeler Bahnhofs liegend, eine tiefe Dankbarkeit gespürt. "Merkwürdig, nicht?", fragt der 42-Jährige. "Aber ich war so froh, dass Menschen da waren, die mit mir redeten und sich kümmerten."

Als habe man ihn an- und wieder ausgeknipst, wachte G. aus der Bewusstlosigkeit auf und fiel wieder in sie zurück. Zehn Tage musste der IT-Spezialist im Krankenhaus liegen. Noch jetzt kann er keine großen Schritte machen, weil Hüfte und Leiste furchtbar schmerzen. Im Kopf verspürt er Schwindel, eine Folge der schweren Schädelprellung. Die Schmerztabletten, ohne die er keinen Schlaf findet, beginnen den Magen anzugreifen. "Ich muss wohl noch mal zurück in die Klinik", fürchtet Artur G., der seit dem Vorfall mehr als einen lukrativen IT-Auftrag ablehnen musste, weil er bislang weder körperlich noch seelisch in der Lage ist, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Die Schläge hallen nach.

"Ich habe die Ruhe in mir selbst noch nicht wiedergefunden", so drückt Artur G. aus, was Fachleute eine posttraumatische Belastungsstörung nennen. Die Bilder aus der Tatnacht tauchen schrittweise immer wieder auf und lassen sich doch nicht zu einem sinnhaften Ganzen zusammensetzen. "Es ist wie bei einem Kaleidoskop", so G. Hinzu kommt nach und nach eine diffuse Angst, jemand wäre hinter ihm her - obwohl er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. Sie rührt laut Artur G. zu einem guten Teil daher, dass seine Angehörigen bereits kurz nach der Tat von Menschen bestürmt wurden, die sich als Freunde ausgaben - und am Ende Reporter oder Kameraleute waren, die Fotos von ihm wollten.

"Ich habe mir nach dem Vorfall einen Vollbart wachsen lassen, weil ich nicht erkannt werden wollte", sagt der stämmige, gut 1,85 Meter große Mann. Warum? "Mir war einfach wohler so." Ein Bart als Maske? Manchmal hilft schon eine kleine äußerliche Veränderung, innere Wunden zu verstecken. Auch seine Begleiterin fühlte sich zeitweise verfolgt. Sie hat darüber bei der Polizei einen Vermerk anfertigen lassen. Beide werden von der Opferschutz-Organisation Weisser Ring betreut.

Dass Amir A., 22, aus Hummelsbüttel, Ibrahim O., 24, aus Winterhude und Hüseyin O., 24, aus Eilbek sich vier Tage nach der Tat bei der Bundespolizei stellten, erfuhr Artur G. aus den RTL-Abendnachrichten in seinem Krankenbett. Rachegefühle, gar Hass, spürt er nicht, wenn er an sie denkt. G.: "Manchmal möchte ich sie einfach anschreien: "Was habt ihr gemacht? Mein Leben habt ihr vollkommen durcheinandergebracht. Und nicht nur meines, auch das meiner Familie und der Freunde." Dann wieder empfinde er ein gewisses Mitleid mit den drei Beschuldigten: Einer soll wegen der Ermittlungen einen bereits zugesagten Job im Sicherheitsdienst verloren haben, ein anderer hätte ein Geschäft übernehmen sollen. "Sie haben in dieser Minute, länger war es ja kaum, ja auch ihr eigenes Leben aus der Bahn geworfen", sagt Artur G. "Durch so einen Scheiß. Das ist doch auch ganz bitter."

Und, ja, er würde wieder so handeln, wenn er erneut in eine solche Situation hineingeschubst würde, sagt Artur G. Zum einen, weil sein Vater auch schon einmal von Jugendlichen bedroht wurde, zum anderen, weil er selbst auch schon mal einem Lebensretter begegnete: Artur G. hatte beim Essen in einem Restaurant einen Kreislaufkollaps erlitten. Ein Gast entfernte ein feststeckendes Stück Pizza aus seinem Hals, ermöglichte Artur G. zu atmen. "Sonst wäre ich vielleicht erstickt", sagt der 42-Jährige. 15 Jahre ist das her. "Ich habe mich dafür nie bedanken können. Seitdem fühle ich eine gewisse Schuld."

Wegzusehen, das sei ihm seitdem und deshalb noch weniger möglich, als es dies schon vorher war. Aber jeder müsse für sich selbst abwägen, was ihm wichtiger ist: die eigene Unversehrtheit oder die Gerechtigkeit.

Artur G. hat viel über mögliche Ursachen der Tat auf dem Bahnhof Veddel nachgedacht, versucht, eine gesellschaftspolitische Erklärung zu finden. Dabei fiel ihm auf, dass gleich mehrere Konflikte sich in der Tat, deren Hauptleidtragender er ist, widerspiegeln: Jung gegen Alt und Alt gegen Jung, Deutsche gegen vermeintliche Ausländer, junge Menschen mit Migrationshintergrund gegen das Gefühl, hier sowieso das Letzte zu sein.

Am Ende, so sagt der grüblerische Computerfachmann, brauchen wir uns doch alle. Die Älteren brauchen die Jungen, die Jungen die Alten. Die Deutschen brauchen die Ausländer, die Ausländer die Deutschen. Gegeneinander geht es auf Dauer nicht.

Die Beschuldigten haben sich bislang zur Tat nicht geäußert. Sie haben keine Vorstrafen, feste Wohnsitze. Sie erwarten den Prozess in Freiheit. Polizei und Staatsanwaltschaft wollen das Verfahren zügig vor Gericht bringen.

Artur G. sagt, er habe den Tätern schon vergeben. "Wenn ich das nicht täte, wäre ich nicht besser als sie."