Hamburger Physiker Knies ist geistiger Vater des weltweit größten Energieprojekts Desertec. Er will Strom aus der Wüste Afrikas holen.

Gerhard Knies kann sich noch sehr genau an den Moment auf dem Flughafen erinnern. Am 1. April 2006 wartete er auf Mallorca auf seinen Flieger, als ihm plötzlich der Name einfiel: Desertec. Das war's. Ein Kunstbegriff, zusammengesetzt aus den englischen Bedeutungen für Wüste und Technik. Eine Wortschöpfung, mit der heute viele Menschen auf der Welt den Traum von Sonnenenergie im Überfluss verbinden. Gerhard Knies sitzt in seinem Wohnzimmer in einem schlichten Reihenhaus in Nienstedten. Der 73-Jährige macht nicht viel Aufhebens um seine Person. Er ist unaufgeregt und seine Worte entfalten ihre Wucht oft erst im Nachhinein. Dabei würde es dieses 400- Milliarden-Euro-Projekt ohne den Hamburger Physiker im Ruhestand gar nicht geben.

Ein gigantisches Industrievorhaben, das Europa mit sauberem Strom versorgen will, die Energiekrise abwenden, den Klimawandel stoppen und die Armut in Afrika bekämpfen.

Im mexikanischen Cancún wird derzeit wieder über den drohenden Klimawandel und die notwendigen Schritte konferiert. Im Bundestag tobte die Diskussion um die Laufzeitverlängerung der 17 deutschen Atomkraftwerke. Dann entschied die schwarz-gelbe Mehrheit, dass die Betriebszeiten von sieben Anlagen um acht sowie die der restlichen zehn AKW um 14 Jahre verlängert werden. Aber wohin bloß mit dem strahlenden Abfall? Kein Endlager ist in Sicht. Als in Gorleben der Castor-Transport voller Atommüll aus Frankreich eintraf, wurde das Wendland prompt wieder in einen Ausnahmezustand versetzt.

Der Pastorensohn Gerhard Knies hat schon in der Schule in einem Fragebogen bei Berufswunsch "Forscher" angegeben. Ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist. Er hat nach dem Abitur Physik an der Technischen Hochschule in Stuttgart studiert. Und kam 1963 zu Desy nach Hamburg. "Die suchten junge Leute, um ein relativ neues Forschungsgebiet aufzubauen." Es ging um die Beschleunigung von Elektronen und Protonen. Um Teilchenphysik und die Frage: Was passiert beim Zusammenstoß von zwei Elementarteilchen? Es ging um die Suche nach immer kurzlebigeren Teilchen, es ging um die Grundlagen der Materie. Die ganz großen Fragen halt.

Ab 1986 ging es Gerhard Knies vor allem ums Überleben. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurden ihm schlagartig zwei Dinge klar: Menschliches Versagen ist niemals auszuschließen. Dessen tödliche Folgen aber, wie im Fall der Kernenergie, dürfen der Menschheit nicht mehr länger zugemutet werden. Die Frage, die er sich stellte, lautete: Wo kriegen wir in Zukunft Energie her, wenn Öl, Gas und Kohle verbraucht sind und wir die Atomkraft aufgeben? Seine Antwort: von der Sonne.

Eine Zahl trägt Gerhard Knies seitdem wie eine Monstranz vor sich her: In sechs Stunden empfangen die Wüsten der Erde mehr Energie von der Sonne, als die Menschheit in einem ganzen Jahr verbraucht.

Gerhard Knies ist jetzt viel unterwegs. Vor Kurzem war er in Tunis. Dort wurde das Desertec University Network DUN gegründet. Die Kooperation von 20 universitären Einrichtungen aus Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten und Jordanien. "Die Vision des Wüstenstromprojekts muss von Leuten getragen werden, die kompetent und in ihren Ländern verankert sind", sagt Knies. Die Menschen in Nordafrika müssten das Projekt "zu ihrer eigenen Sache" machen, die Bewegung müsse "auch von unten" kommen.

Hier war es ja genauso. 1997 nahm Knies ein Sabbatjahr bei Desy und informierte sich beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Stuttgart über Solartechnik. "Da habe ich sehr viel gelernt." Nach seinem Ruhestand 2001 hat er die Sache intensiviert. Die Wandlung aber vom liebenswerten "Spinner", der die Sonne einfach aus der Wüste nach Europa holt, zum geistigen Vater eines gigantischen Energieprojekts mit mächtigen Verbündeten, war mühsam. Und manchmal half ihm der Zufall.

So, als das Bundesumweltministerium (BMU) zwei DLR-Studien über Solarstrom aus der Wüste mit jeweils 165 000 Euro wohl hauptsächlich deshalb finanzierte, weil 2004 wegen der ersten Internationalen Erneuerbare-Energien-Konferenz in Bonn Handlungsdruck bestand. Diese Studien bilden heute die wissenschaftliche Grundlage des Konzepts. Das ehrgeizige Ziel: Im Jahr 2050 sollen 15 Prozent des EU-Stroms aus Afrika kommen.

Als Knies jedoch merkte, dass das BMU ein Jahr später unter Minister Sigmar Gabriel das Projekt an sich reißen wollte, um, so Knies, "zum Schutz der heimischen Kohle die große Lösung kleinzureden", war Schluss: "Wir können mit der Rettung der Welt nicht warten, bis es keinen Widerstand mehr von der Politik gibt."

Knies empfindet es als "Kränkung der Intelligenz", dass "wir die Welt für ein bisschen mehr Komfort zerstören". Es sei "irrsinnig und dumm", dass Kohle verbrannt, Risiken nur verwaltet und die Menschen den Lebensplatz Erde als Steinbruch verstehen. Dass sie nicht in kompletten Systemen denken, sondern meist dem kurzfristigen Vorteil verfallen, macht ihn wütend.

Die Lösung der globalen Energieprobleme ist für ihn auch eine Sicherheitsfrage. Deshalb versteht er nicht, dass nicht wenigstens einige Prozent der 1500 Milliarden Dollar, die - pro Jahr - weltweit für Waffentechnologie ausgegeben werden, für Projekte wie Desertec abgezweigt werden. "Eigentlich müsste fast alles für Energie- und Klimasicherheit und nur noch wenige Prozent für Waffen ausgegeben werden", sagt er. Denn: "Was außer der Blasmusik können wir vom Militär für unsere Sicherheit noch gebrauchen?"

Letztlich sieht der Physiker Knies das Ganze auch als Experiment: Sollte Desertec tatsächlich umgesetzt werden, wäre das für ihn ein Beweis, dass nicht nur einzelne Menschen, sondern auch die Menschheit klug ist.

Als die Politik diesen Beweis schuldig blieb, fragte sich Knies: Wer wären eigentlich die wirtschaftlichen Gewinner seiner Idee? Die Deutsche Gesellschaft des Club of Rome hatte er längst im Boot. Nun begann er, große Unternehmen mit seiner Zahl zu konfrontieren. Anfang 2009 präsentierte er seine Afrikakarte mit den kleinen roten Quadraten, die jedes Energieproblem lösen könnten, dem Vorstand der Munich Re. Zu einer Zeit, als der Münchner Rückversicherer immer größere Summen für Schäden aus Stürmen und Fluten aufwenden musste. Millionen Euro teure Folgen des Klimawandels. Und die Tendenz? Steigend.

"Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist", schrieb der französische Dichter Victor Hugo schon vor 150 Jahren. Und plötzlich ging alles ganz schnell. Wenige Monate später waren Siemens und E.on, die Deutsche Bank und RWE, MAN Solar Millennium aber auch Abengoa Solar aus Spanien mit von der Partie.

Vor einem Jahr wurde die Desertec Industrial Initiative (DII) gegründet. Diese Gesellschaft der "Jünger des Lichts" ("Spiegel") soll, kurz gesagt, die Realisierung des Projekts beschleunigen. Seither ist sie rasant gewachsen, mittlerweile sind mehr als 50 Unternehmen und Partner aus Europa, dem Nahen Osten sowie Nordafrika, die sogenannte Eumena-Region, dabei.

Vor wenigen Wochen war Gerhard Knies wieder auf Reisen. Auf der ersten Jahrestagung der DII in Barcelona kamen erstmals alle Beteiligten zusammen. Eine Unmenge Fragen warten auf Klärung: Kosten der Stromerzeugung, Art der Technologie, Menge und Standorte der Kraftwerke, Verteilung des Stroms in der Region und nach Europa, Preise für Lieferung und Transport, Bedarf an Arbeitsplätzen. "All das sind Fragen", sagte DII-Chef Paul van Son, 57, "die wir bisher bestenfalls im Ansatz beantworten können." Desertec sei "eine Vision", da steckt "alles noch in den Kinderschuhen". Der Niederländer hofft, dass vielleicht Anfang 2013 der erste Spatenstich für ein Projekt in Marokko erfolgen kann.

Auf die Frage, ob Desertec für den deutschen Steuerzahler zum Millionengrab werde, sagte van Son der "Frankfurter Allgemeinen": "Es wird ein Grab für uns alle, wenn wir nichts machen."

Gerhard Knies ist guter Dinge. Schließlich durfte sich der Netzwerker in Barcelona über den Zuspruch von zwei weiteren mächtigen Verbündeten freuen. Hassine Bouzid, Missionschef der Arabischen Liga, warnte vor den gravierenden Folgen des Klimawandels für die Ökonomien der Mitgliedstaaten. "Die Ölmärkte sind limitiert, unsere Sorgen angesichts der wachsenden CO2-Belastung groß. Desertec wird für uns ein wichtiges Thema."

Auch Günther Oettinger, 57, war in Barcelona auf der Sonnenseite. Der EU-Energiekommissar will die Energiepartnerschaft mit Afrika forcieren. "Das liegt in unserem Interesse." Einwände über neue Abhängigkeiten von Lieferungen aus unsicheren Ländern wischt er vom Tisch: "Seit Jahren importieren wir Gas aus Russland und Öl aus dem Nahen Osten. Warum sollten wir das jetzt nicht mit sauberen Energien machen?" Gerade legte Oettinger konkrete Pläne für eine europaweite Energie-Strategie vor. Kosten für Leitungs-, Netz- und Speicherkapazitäten: eine Billion Euro bis 2020. Weg von der Agrarförderung, hin zu Speicherwerken und Strommasten - ein gewaltiges Infrastrukturprogramm, das jedoch durch jeden einzelnen Grundstückskauf zwischen Spanien und Norwegen jahrelang blockiert werden kann.

Denn natürlich gibt es noch genug Hürden. Manche sind so hoch wie die Pyrenäen. Diese müssen mit gewaltigen Strommasten überwunden werden. Gefragt sind moderne Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ), die den Strom mit Verlusten von weniger als drei Prozent pro 1000 Kilometer übertragen. Andererseits: Kanzlerin Angela Merkel, Greenpeace oder Friedensnobelpreisträger Al Gore - sie alle finden das Desertec-Konzept richtig gut: "Sauberer Strom aus den Wüsten für eine Welt mit zehn Milliarden Menschen." Knies & Co. wissen sozusagen eine große Koalition der bedingungslosen Befürworter hinter sich. Was soll da noch schiefgehen?

Dafür gibt es Menschen wie Gerhard Knies, die sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen. Und die ihren Ruhestand dazu nutzen, um die Welt zu retten. Nach einem Jahrzehnt voller Planungen und Konferenzen, Erfolgen und Rückschlägen ist der Hamburger guter Dinge, dass der Wüstenstrom wirklich irgendwann nach Europa fließen wird.

Kann das Projekt denn noch, buchstäblich, versanden? "Nein", glaubt Knies, "dazu ist das Eigeninteresse der nordafrikanischen Länder zu groß." Tunesien habe bereits einen eigenen Solarplan, Marokko auch. Dort heißt es heute: "Wir wollen die Brücke zwischen Afrika und Europa werden."

Bleibt die Frage, wie Gerhard Knies die mächtigen Konzerne überzeugt hat. "Ganz einfach", sagt er. "Ich habe den Verantwortlichen gesagt: Die Rettung der Welt wird das größte Geschäft der Zukunft - wollt ihr dabei sein?"