Die Jahrhundertflut hat große Teile Pakistans verschlungen. Ein weiterer Tiefpunkt in dem von Chaos und Armut gebeutelten Staat.

Als die Erde im Januar auf der Karibikinsel Haiti bebte und mindestens 300 000 Menschen unter den Trümmern ihrer Häuser starben, da öffneten die Deutschen spontan ihre Herzen und ihre Brieftaschen und spendeten binnen weniger Wochen rund 200 Millionen Euro. Nun aber, da eine Jahrhundertflut große Teile Pakistans verschlungen hat und 20 Millionen Menschen, ihrer Unterkunft und aller Habe beraubt, unter entsetzlichen Bedingungen auf Hilfe warten, da scheinen die Geldbörsen der Deutschen plötzlich wie zugenäht.

+++ Spenden für die Flutopfer in Pakistan +++

Pakistan, das ist mal sicher, hat kein Image, das einen freudig in die Tasche greifen lässt. Das südasiatische Riesenland - mit gut 880 000 Quadratkilometer Fläche zweieinhalb mal so groß wie Deutschland - ist geradezu ein Synonym für Armut, Diktatur, Terrorismus und Korruption. Dabei nimmt die Islamische Republik mit ihren 174 Millionen Menschen eine strategische Schlüsselstellung zwischen den Mächten Iran, Indien, China und Afghanistan ein. Es ist ein schönes, wildes Land. Durchflossen wird es vom gewaltigen Indus, und im Norden Pakistans treffen mit dem Hindukusch, dem Karakorum und dem Himalaja die drei höchsten Gebirgszüge der Welt zusammen. Der 8611 Meter hohe K2 , der zweithöchste Berg der Erde, und weitere vier Achttausender liegen auf pakistanischem Gebiet.

Doch kein Jahr in der 63-jährigen Geschichte Pakistans verlief bislang friedvoll und problemlos. Schon seine Staatsgründung 1947 vollzog sich unter furchtbaren Menschenopfern. Aus der kolonialen Konkursmasse des riesigen Britisch-Indien, das Königin Victoria einst als Kaiserin beherrscht hatte, entstand neben der heutigen Republik Indien - der größten Demokratie der Welt - aus den überwiegend muslimischen Regionen auch ein monströses staatliches Doppelgebilde namens Pakistan. Dessen östliche und westliche Landesteile lagen 1500 Kilometer voneinander entfernt, getrennt durch den indischen Subkontinent. 1971 zerfiel dieser kuriose Staat - und Ostpakistan wurde als Bangladesch eigenständig. Rund sieben Millionen Hindus und Sikhs flohen nach der Teilung aus Pakistan - eine Dreiviertelmillion von ihnen kam durch Pogrome und Strapazen um.

+++ Kinder in Pakistan von tödlichen Krankheiten und Hunger bedroht +++

Politisch stabil wurde der Vielvölkerstaat Pakistan wirklich nie - über weite Strecken seiner Geschichte beherrschten Militärregime das Land, das sich 1956 zur ersten Islamischen Republik der Erde erklärte. Mehr als 96 Prozent der Pakistaner sind Muslime; die meisten sind Sunniten einer orthodoxen Ausrichtung. Hinzu kommen bis zu einem Viertel Schiiten. Wie auch in anderen muslimischen Staaten führt das islamische Schisma immer wieder zu blutigen Konfrontationen.

Dass das Militär in Pakistan eine so dominante Stellung einnimmt, hat mit dem schwierigen Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn Indien zu tun. Vier Kriege hat Pakistan seit 1947 mit Indien geführt, drei davon um die geteilte und von beiden Staaten beanspruchte Region Kaschmir. (China hat sich ebenfalls einen - kleineren - Teil von Kaschmir einverleibt.)

Da Indien mehr als eine Million Soldaten unter Waffen hält und Atommacht ist, hat sich auch Pakistan Nuklearwaffen samt Trägerraketen zugelegt. Seine aktiven Streitkräfte umfassen rund 600 000 Mann und arbeiten eng mit Chinas Armee zusammen. 2004 reagierte die Welt entsetzt, als Pakistans Regierung einräumen musste, dass der im Land hochverehrte "Vater der pakistanischen Atombombe", Abdul Qadeer Khan, dessen Texte Kinder in der Schule lernten, die Blaupausen für die Atomwaffe aus Habgier an Staaten wie Libyen, den Iran und Nordkorea verkauft hatte. Der schwerreiche Khan kam vorübergehend in Arrest, wurde inzwischen aber begnadigt.

Immer wieder versichert die Regierung in Islamabad, dass die Atomwaffen - ihre Zahl wird auf 80 bis 150 geschätzt - sicher seien. Angesichts der Tatsache, dass die mit dem Terrornetzwerk al-Qaida verbündeten pakistanischen Taliban stetig weiter an Boden und an Unterstützung im Volk gewinnen, wachsen im Westen jedoch Zweifel und Sorgen. Fiele den Radikalislamisten diese Endzeitwaffe in die Hände, wären die Folgen für die gesamte Welt unabsehbar. Entstanden waren die Taliban ohnehin einst in Pakistan - aus eifernden, militanten Koranschülern.

Massiv gedrängt von den USA, startete die pakistanische Armee im vergangenen Jahr eine Großoffensive gegen die Taliban im Swat-Tal, das jetzt besonders unter der Flutwelle leidet. Die Kämpfe forderten Tausende Tote; doch die Taliban sind weiterhin virulent.

Problematisch dabei ist, dass Teile des Offizierskorps, vor allem aber des mächtigen Geheimdienstes ISI, der als Staat im Staate gilt, mit den radikalen Islamisten sympathisieren. Der ISI soll die Taliban sogar mit Waffen, Training und Taktik versorgen. Die im Land verhassten Amerikaner haben zu dieser dramatischen Entwicklung selber beigetragen - ihren Luftwaffen- und Kampfdrohneneinsätze sowie den Geheimoperationen ihrer Eliteverbände auf pakistanischem Gebiet sind zahlreiche Zivilisten zum Opfer gefallen.

In großen Gebieten Nordwestpakistans (Waziristan) und im Swat-Tal hat die Zentralregierung inzwischen die Kontrolle an die militanten Islamisten verloren. Irgendwo im Grenzgebiet zu Afghanistan wird auch die Al-Qaida-Spitze mit Osama Bin Laden und Mullah Omar vermutet. Aber auch in Teilen Belutschistans, Sindh und Punjab herrschen eher lokale Machthaber.

Die Atommacht Pakistan, derzeit wohl nur von der Armee halbwegs stabilisiert, gilt als Schwacher Staat (fragile state). Diese Einstufung - gekennzeichnet unter anderem durch fehlendes Gewaltmonopol sowie Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit - ist die Vorstufe zum Gescheiterten Staat (failed state). Unter George W. Bush soll es in der US-Regierung Bestrebungen gegeben haben, Pakistan offiziell zum Gescheiterten Staat zu erklären - um auf die Atomwaffen Zugriff nehmen zu können.

Einige Experten sehen Pakistan bereits an der Schwelle zum "failed state". Dies habe aber weniger mit den Taliban, sondern eher mit einem ökonomischen und sozialen Desaster und weit verbreiteter Hoffnungslosigkeit unter jungen Menschen zu tun, die damit leichte Beute für radikale Rattenfänger würden.

Eines der gravierendsten Probleme Pakistans - sowohl im Zusammenhang mit der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft als auch mit der gegenwärtigen Flutkatastrophe - ist die grassierende Korruption. Pakistan gilt als eines der korruptesten Länder der Erde. Gerade berichtete der Londoner "Daily Telegraph" zum Entsetzen der Regierung in Islamabad, dass nach dem schweren Erdbeben in Pakistan vor fünf Jahren umgerechnet 367 Millionen Euro an Hilfsgeldern veruntreut worden seien. Das Geld sei gar nicht erst auf dem Konto der Wiederaufbaubehörde ERRA angekommen.

Die internationale Antikorruptions-Organisation Transparency International (TPI) erklärte, die Korruption durchdringe in Pakistan jeden Aspekt des Lebens. Dort meldeten sich nun kritische Stimmen, die erklärten, das entsetzliche Ausmaß der Flutkatastrophe sei überhaupt nur durch Korruption möglich geworden: Jahrzehntelang hätten Verantwortliche nämlich die Gelder für den Ausbau von Dämmen und Wehren in die eigene Tasche gesteckt. Pakistans TPI-Chef Syed Adil Gilani sagte, seit Gründung der pakistanischen Behörde für Überschwemmungen vor 30 Jahren seien 70 Prozent ihres Haushaltes veruntreut worden. In einigen Flutgebieten klagten Überlebende, Behördenvertreter würden Zelte und Decken nur an Verwandte ausgeben.

Der Regierung traut ohnehin kaum noch ein Pakistaner zu, die brennenden Probleme des Landes zu lösen. Während sein Volk ertrank, reiste Präsident Asif Ali Zardari zunächst seelenruhig in Europa umher und nahm sich dabei noch die Zeit, mit dem Hubschrauber zu einem Château aus dem 16. Jahrhundert zu fliegen. Das prächtige Anwesen in der Normandie gehört zum ausgedehnten Besitz des Multimillionärs.