65.000 Fans bejubeln den 4:0-Sieg der deutschen Elf. Es ist ein Auftakt nach Maß. Ist es der Startschuss zu einem neuerlichen Sommermärchen?

Hamburg. "So ein Tag, so wunderschön wie heute!" Um 22.17 Uhr braust ein Orkan mittelschwerer Begeisterung über das Heiligengeistfeld. Freunde und Fremde liegen sich in den Armen. Der Abpfiff in Durban führt zu kollektivem Jubel auf St. Pauli. Es ist ein Auftakt nach Maß. Vier Volltreffer, eine Rote Karte und Spielzüge der Extraklasse sind die Zutaten für eine Nacht, die nachklingen wird. Ist es der Startschuss zu einem neuerlichen Sommermärchen?

Schon beim Anpfiff um 20.30 Uhr zeigen sich die Hamburger in weltmeisterlicher Frühform. Mehr als 65.000 Sports- und Partyfreunde zelebrieren eine Fußballfiesta, die Appetit auf mehr macht. Nicht viele fehlen, und die Polizei hätte die drei Zugänge zum Platz schließen müssen. Bei 70.000 Zuschauern ist Schluss mit lustig. Aus Sicherheitsgründen.

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"Sieg!", brüllt Kalle Pohl aus Rahlstedt euphorisch, bevor sich die Kicker mit dem Bundesadler auf der Brust zur Nationalhymne formieren. Sein Tipp: 3:0. Mindestens. Der Mann muss seherische Qualitäten haben. Auch aus der Distanz haben er und seine drei Mitstreiter Yvonne Wildner, Stefanie Balle und Rob Kruber hervorragende Sicht auf das Geschehen in Südafrika. Wie fast alle am Millerntor hat sich das Quartett dem Festtag entsprechend gekleidet: Zylinder, Perücken, Trikots, Schals und Schweißbänder - natürlich komplett in Schwarz, Rot, Gold. Aber auch Fans anderer Länder, allen voran die zuvor siegreichen Ghanaer, beteiligen sich mit lautstarker Begeisterung.

Zehntausende stimmen in das Lied der Deutschen ein. Einigkeit! Während Schweini & Co. den WM-Ball erstmals während des Turniers berühren, können die Mitarbeiter an den Ständen auf dem Boulevard der Nationen nebenan einen Moment durchatmen: Seit mittags lief das Geschäft exzellent. Wer auch ob des müden Kicks der Engländer am Sonnabend keinen Appetit auf Fish & Chips und ähnliche Delikatessen von der Insel hat, wird andernorts fündig.

Zum Beispiel mit Aussie-Burgern, Piroggen aus Slowenien oder acht Frühlingsrollen für 3,50 Euro am Imbiss der Asiaten. Zum Bier gibt es gleichfalls eine Alternative. Zum Beispiel im afrikanischen Zelt, in dem Bissap- oder Ingwersaft gereicht werden. Ruhesuchende und von den Strapazen des "Vorspiels" gezeichnete Partygäste erleben das Match in den Liegestühlen oder auf den Sofas der deutschen Vertretung. Auf einem Ölgemälde an der Wand hinter der Wohnzimmerecke zeigt ein jubelnder Uwe Seeler, was in Südafrika auf dem Spiel steht.

Irmgard Stebe aus Hamburg hat diese famosen Fußballtage miterlebt. Schon anno 1954 war die 91-Jährige am Ball beziehungsweise Radio dabei. Heute ist sie mit dem Rollstuhl nach St. Pauli gekommen. Voller Vorfreude, mit zwei Deutschlandfahnen und einer Tröte trefflich ausgerüstet. Der erste Schuss auf das Tor der Australier wird mit Beifall quittiert. Ein junger Mann klatscht die alte Dame ab. So soll es sein. Wie bei dem Dutzend fantasievoll geschminkter Freaks aus Sparrieshoop bei Elmshorn: Ihre gigantische Deutschlandfahne erregt selbst im Fahnenmeer Aufsehen.

Wer sich nicht bereits daheim zünftig ausstattete, kann an den Buden der Feiermeile zuschlagen. Hüte in den alles dominierenden Farben kosten zehn Euro, Kopfkreationen mit Bunny-Ohren drei, Hawaiiketten zwei und Fackeln 1,95 Euro. Wer sich auch im Straßenverkehr zu Jogis Jungs bekennen will, ersteht Autofahnen oder Überzieher für die Außenspiegel (sechs Euro). Auf dem Feld der unbegrenzten Möglichkeiten geht an diesem Abend alles. Fast alles.

Auch auf der anderen Hälfte der Erdkugel, in Durban? 20.38 Uhr. Auf dem Riesenmonitor ist Podolskis Volltreffer zum 1:0 groß zu sehen, und auch auf dem Heiligengeistfeld geht's jetzt so richtig los. "Poldi, ,Poldi!", skandieren sie. Die Zeitlupe geht im Freudentaumel unter. Was wird hier erst los sein, so die Mutter aller Fragen, sollte die deutsche Elf ihre starke Leistung noch steigern und im Wettbewerb tatsächlich so weit kommen, wie es sich die Fans in diesem Moment erhoffen?

Es passt ins Bild, dass T-Shirts mit höchst optimistischem Aufdruck angeboten werden: Deutschland Weltmeister - 1954, 1974, 1990 ... und 2010. Zehn Euro, fast geschenkt für einen wunderbaren Traum. Der um 20.57 Uhr weitere Nahrung erhält. Als Klose, ausgerechnet Klose, mit Köpfchen zum 2:0 vollstreckt, erreicht die Stimmung auf dem Heiligengeistfeld einen weiteren Höhepunkt. Auch auf der Familientribüne und im VIP-Bereich sind die Gäste komplett aus dem Häuschen.

Mit dem Halbzeitpfiff werden gereckte Hälse entspannt, vom Fahnenschwenken taube Arme geschüttelt, aufmunternde Küsse verteilt, Biernachschub organisiert. 2:0, wer hätte das gedacht? Die Polizei hat, zumindest jetzt um 21.20 Uhr, einen turbulenten, indes friedfertigen Job. "Keine Probleme", vermeldet ein Sicherheitsmann. Zwar staute es sich an den Eingängen zeitweise mächtig, doch machte das Partyvolk gute Miene zum zeitraubenden Spiel. Müllers 3:0 sowie Cacaus 4:0 lassen Herzen und Menschen höher hüpfen.

Brett Seychell aus Melbourne mit Wohnsitz in England bleibt auf dem Boden. Ganz gewiss ist der gebürtige Australier der Besucher mit der längsten und anstrengendsten Anreise: Der 34-jährige Nachtklubbetreiber aus London ist mit dem Radl da. Mit der Fähre in Calais aufs Festland und dann weiter gen Heiligengeistfeld. Neun Tage im Sattel, nur um seine Aussies gegen Deutschland in Hamburg untergehen zu sehen. Dieser Mann ist Weltmeister! Jetzt schon. Allerdings machte ihm neben dem Fanfest ein zweiter Kick Beine: Aus Paris schwebte Freundin Kimmi Kifun ein. Die Niederlage des australischen Teams tragen beide mit Fassung: "Diese Party war's wert!"