Berlin. Kollabieren die Ozeane? Wissenschaftler warnen in einer neuen Studie vor einem Anstieg von Mikroplastik in den Meeren um das 50-Fache.

Wer eine Auster schlürft, eine Miesmuschel verzehrt, isst Plastik mit. Ob es der Gesundheit schadet, können Wissenschaftler noch nicht sagen, das ist bislang wenig erforscht. Indes steht fest: Das Meeresgetier nimmt das Plastik mit seiner Nahrung auf, das es aus dem Wasser filtert.

Längst finden sich überall im Meer größere oder kleine Plastikteile, selbst in den entlegensten Winkeln. Und sie werden mehr. Die Verschmutzung der Ozeane wächst exponentiell.

Die neue WWF-Studie zum Plastikmüll im Meer liest sich wie ein SOS

Das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung, das AWI in Bremerhaven, hat im Auftrag des Umweltverbandes WWF knapp 2600 Studien aus der ganzen Welt durchforstet.

Nie zuvor ist der aktuelle Stand des Wissens zum Plastikmüll im Meer derart zusammengetragen worden. Er liest sich wie ein SOS, ein Notsignal.

Kommt ein globales Abkommen gegen Meeresmüll?

An diesem Dienstag wird die Studie veröffentlicht, nur wenige Tage bevor vom 28. Februar bis zum 2. März die Umweltversammlung der Vereinten Nationen, kurz: UNEA, in Kenias Hauptstadt Nairobi zusammenkommt. Die 193 Mitgliedstaaten sollen dort auf Initiative von Ruanda und Peru entscheiden, ob ein globales Abkommen gegen Meeresmüll auf den Weg gebracht wird – ähnlich dem Pariser Klimaabkommen mit Minderungszielen und nationalen Aktionsplänen.

Für die Studienmacher ist klar: Es gibt keine Alternative. Anzeichen, dass der Eintrag von Plastikmüll in die Meere in naher Zukunft einfach aufhört oder sich auch nur verlangsamt, gebe es „kaum“. Im Gegenteil.

Die Wissenschaft warnt vor der „Plastifizierung“ der Ozeane

Die Forschenden prägen einen neuen Begriff, sie warnen vor der „Plastifizierung“ des Ozeans. Die entscheidenden Erkenntnisse im einzelnen:

Erstens: Seit 2010 hat die Kunststoffindustrie 180 Milliarden US-Dollar in neue Fabriken investiert. Bis 2040 wird sich die Kunststoffproduktion voraussichtlich mehr als verdoppeln. Am Ende bleibt Müll, immer mehr Müll. Der Kunststoff wird zerrieben, bis er ganz zersetzt ist, dauert es. Er zerfällt in kleine und kleinste, in Mikro- und Nanoteilchen. Bis Ende des Jahrhunderts, rechnen Forscher vor, ist in den Ozeanen dann mit einem Anstieg des Mikroplastiks um das 50-fache zu rechnen.

Plastikmüll in der Hanauma Bay vor Hawaii. Bis zu 150 Millionen Tonnen Plastik treiben laut Schätzungen weltweit in den Ozeanen.
Plastikmüll in der Hanauma Bay vor Hawaii. Bis zu 150 Millionen Tonnen Plastik treiben laut Schätzungen weltweit in den Ozeanen. © AP Photo | dpa Picture-Alliance / Uncredited

Einwegplastik macht das Gros des Kunststoffmülls in den Meeren aus

Dabei sind – zweite Erkenntnis – die Mengen schon jetzt gigantisch. Seit den 1950er Jahren wird Plastik in großem Maßstab hergestellt. Die bis heute produzierte Menge wiegt laut den Experten alles in allem bereits das doppelte der Masse aller Tiere auf der Erde. Reste werden allzu oft über die Flüsse ins Meer gespült, auch von wilden, offenen Deponien dort hin geweht. Das Gros: Einwegplastik. Es macht 60 bis 95 Prozent des Kunststoffs in den Ozeanen aus.

Auch die Fischerei hat ihren Anteil: Mindestens 22 Prozent des Plastiks im Meer gehen auf ihr Konto, weil ausgediente Netze, Schnüre, Styroporkisten für immer im Wasser landen, auch mal Container über Bord gehen. Dazu kommen andere Quellen, etwa der Abrieb von Bremsen und Reifen. Lesen Sie dazu:Bioplastik: Darum ist es nicht immer besser für die Umwelt

Was findet man im 11.000 Meter tiefen Marianengraben: eine Plastiktüte

Je nach Schätzung treiben so längst zwischen 86 und 150 Millionen Tonnen Plastik in den Ozeanen. Pro Jahr kommen etwa 19 bis 23 Millionen Tonnen hinzu – das sind jede Minute fast zwei Lkw-Ladungen. Sie finden sich allerorten wieder. Forscher fanden Reste einer Einkaufstüte aus Plastik schon in 11.000 Metern Tiefe im Marianengraben.

Ein Müllstrudel nordöstlich von Hawaii – er ist der größte von insgesamt fünf Müllstrudeln – ist viermal so groß wie Deutschland. Plastikfolie bleibt auch in – durch die Klimakrise ohnehin schon gebeutelten – Korallenriffen hängen wie in Bäumen an Land. Es belastet zudem Mangroven, die wichtige Kinderstube für Fische sind. Es sammelt sich an Mündungen von Flüssen.

Meerestiere fressen das Plastik und verenden

Das bleibt nicht – Erkenntnis Nummer drei – ohne Folgen. AWI-Meeresbiologin Melanie Bergmann, eine der Studienautoren, zählt dokumentierte Fälle wie diese auf: Schildkröten verwechseln Kunststofftüten mit Quallen, von denen sie sich ernähren. Ein Wal, der an Küste Indonesiens tot angespült wurde, hatte sechs Kilo Plastik im Magen. 90 Prozent aller Seevögel verschlucken heute schon Plastik.

Auch Fische bleiben nicht verschont: Im Labor hat sich gezeigt, dass sie weniger wachsen, ist ihr Futter mit großen Mengen Mikroplastik belastet.

Im Mittelmeer ist der kritische Schwellenwert überschritten

„Plastikmüll durchringt das gesamte System des Ozeans“, sagt WWF-Meeresexpertin Heike Vesper. In manchen Regionen seien längst kritische Schwellenwerte der Verschmutzung überschritten: im Meereis der Arktis, im Ostchinesischen und im Gelben Meer, auch im Mittelmeer.

Lässt sich das Plastik wieder raus fischen? Versuche dazu gibt es. Doch Vesper setzt wenig Hoffnung in sie. Einmal im Meer verteilt, lasse es sich „kaum zurückholen“. Es sind zu viele Mikro- und Nanoteilchen.

Kein Land in Europa produziert so viel Verpackungsmüll wie Deutschland

Was nun? Dort, wo ein Abfallentsorgungssystem fehle, müsse es jetzt aufgebaut werden, rät der WWF. Das sei vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern der Fall. Aber auch in Deutschland gebe es einiges zu tun. 2019 zum Beispiel habe kein Land in Europa so viel Verpackungsmüll wie Deutschland verursacht – pro Kopf waren es 227,55 Kilo. Lesen Sie mehr:Gegen Plastikmüllexport: Kunststoffe gehören nichts ins Meer

Geschältes Obst im Plastikbecher müsse zum Beispiel nicht sein, meint Vesper. Darauf lasse sich verzichten. Am besten sei der Plastikmüll, der gar nicht erst entsteht.