Braunschweig. Aktionäre fordern im VW-Abgas-Skandal vier Milliarden Euro Schadenersatz. Jetzt startet der Musterprozess, der die Verfahren bündelt.

Vor drei Jahren wurden die Abgas-Manipulationen bei Volkswagen bekannt. Die juristische Aufarbeitung des beispiellosen Betrugs hat den Wolfsburger Autobauer bisher etwa 28 Milliarden Euro gekostet. Weitere Milliarden könnten aus Forderungen von VW-Aktionären hinzukommen. Am Montag beginnt vor dem Oberlandesgericht Braunschweig ein wegweisendes Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz.

Beklagte sind VW und die Stuttgarter Porsche-Holding SE (PSE). Das Unternehmen bündelt die Beteiligungen der Familien Porsche und Piëch am VW-Konzern. Zentraler Vorwurf: VW und PSE hätten die Anleger nicht rechtzeitig über den Abgas-Betrug informiert. Ihnen sei ein großer finanzieller Schaden entstanden. Die Aktien hatten nach dem 18. September 2015 dramatisch an Wert verloren. Die VW-Vorzugsaktie brach um fast 50 Prozent ein.

Musterverfahren stellvertretend für 1644 weitere Klagen

Verhandelt wird die Schadenersatzforderung der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka-Investment über rund 200 Millionen Euro gegenüber VW sowie eine Forderung privater Anleger über etwa 15.000 Euro gegenüber der PSE. Das Gericht hatte die PSE neben VW zur Musterbeklagten bestimmt, weil es eine große inhaltliche Verwandtschaft zu den Klagen gegen VW gibt.

Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz soll verhindern, dass jede Klage einzeln verhandelt werden muss. Das Gesetz wurde im Zuge der VW-Affäre beschlossen. Das Musterverfahren wird stellvertretend geführt für 1644 weitere Klagen. Die Forderungen belaufen sich auf knapp vier Milliarden Euro. Das Urteil ist für alle anderen Verfahren bindend.

VW steht auch in Celle vor Gericht

Vertreten wird Deka-Investment von Rechtsanwalt Andreas Tilp aus Kirchentellinsfurt in Baden-Württemberg. Tilp (55), Markenzeichen knallrote Schuhe, ist auf Bank- und Kapitalmarktrecht spezialisiert. So vertrat er Musterkläger gegen die Telekom und die deutsche Bank Hypo Real Estate, die in der Finanzkrise von der öffentlichen Hand aufgefangen werden musste.

Gegen VW und PSE kämpft Tilp an mehreren Fronten: im Zusammenhang mit dem Abgas-Betrug vor Gerichten in Braunschweig und in Stuttgart. Vor dem Oberlandesgericht Celle fordern Anleger ebenfalls von VW und der PSE Schadenersatz. Dort geht es aber um den vor zehn Jahren gescheiterten Versuch von Porsche, den VW-Konzern zu schlucken.

Rechtsanwalt: VW hat zu spät informiert

Die Argumentation Tilps für das am Montag beginnende Musterverfahren setzt weit vor dem 18. September 2015 ein. An diesem Tag haben US-Behörden den Abgas-Betrug öffentlich gemacht. Am 22. September hat VW die Anleger über die Dimension des Betrugs informiert. Tilp meint, VW hätte die Anleger schon im Frühjahr 2008 informieren müssen. Spätestens mit dem Antrag auf Zertifizierung des von der Betrugssoftware betroffenen Diesel-Motors EA189 in den USA hätte VW klar sein müssen, dass das Unternehmen rechtswidrig handelt.

„VW hätte stattdessen sagen müssen: ‚Wir schaffen das nicht‘“, sagt Tilp. VW habe damals offensiv für seine vermeintlich umweltfreundliche Technik geworben und damit auch Anleger in „Kaufstimmung“ versetzt.

Wer wusste bei VW was wann?

Im März 2014 habe dann die „Vertuschungsphase“ begonnen, als VW von einer Studie des International Council on Clean Transportation erfahren hatte. Straßentests zeigten, dass VW-Diesel bis zu 40-mal mehr Stickoxid ausstießen als erlaubt. Durch diese Studie ist der Betrug später aufgeflogen.

In dem Musterverfahren könnte es auch um die Frage gehen, wer bei VW wann von dem Betrug wusste. Für Tilp ist es jedoch nicht kriegsentscheidend, ob der Konzernvorstand früh eingeweiht war. Der Autobauer hat sich nach seiner Auffassung so oder so schuldig gemacht. Selbst wenn der Vorstand keine Kenntnis gehabt habe, seien zumindest nachgeordnete Manager Mitwisser gewesen. Sie hätten ihr Wissen weitergeben müssen, so Tilp.

VW ist überzeugt, nicht gegen Pflichten verstoßen zu haben

Laut VW wusste der Vorstand nichts vom Betrug, so steht es in der Klage-Erwiderung, die unserer Redaktion vorliegt. Beim „Schadenstisch“-Treffen am 27. Juli 2015 etwa sei nicht mitgeteilt worden, dass in Täuschungsabsicht ein Gesetzesverstoß nach US-Recht begangen wurde. Vor allem aber konnte die Konzernspitze nach Auffassung des Autobauers nicht vor dem 22. September 2015 von einem erheblichen Einfluss auf den Aktienkurs ausgehen. Zuvor hätten US-Behörden viel geringere Strafen verhängt. Der damalige Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch ging laut Klage-Erwiderung von rund 150 Millionen Euro aus. VW ist überzeugt, nicht gegen seine Pflichten verstoßen zu haben.

VW lässt sich von den Kanzleien SZA aus Mannheim und Göhmann aus Braunschweig vertreten. Selbst wenn der Vorstand davon ausgegangen wäre, dass er früher eine Ad-hoc-Meldung hätte herausgeben müssen, hätte er von der Selbstbefreiung Gebrauch machen dürfen, argumentieren die Juristen. Denn VW verhandelte mit US-Behörden über eine Lösung. Dann habe die US-Umweltbehörde EPA mit der Veröffentlichung des Betrugs am Freitag, 18. September 2015, einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Sie veröffentlichte zudem die mögliche Maximalstrafe von 37.500 Dollar pro Auto (32.000 Euro).

Ermittlungen gegen Winterkorn, Pötsch und Diess

Am Sonnabend rief der Konzernvorstand laut Firmenkreisen Verantwortliche an, am Sonntag trafen sie in Wolfsburg ein. Erst an dem Wochenende sei bekannt geworden, dass weltweit elf Millionen Diesel betroffen waren. Erst am Dienstagmorgen, 22. September, habe das Ausmaß festgestanden – VW teilte mit, 6,5 Milliarden Euro zurückzustellen. Die Aktien stürzten ab.

Auch die „Verschwörung“, über die sich die Amerikaner offenbar besonders ärgerten – der Betrug dauerte Jahre, die Mitarbeiter logen weiter, als die Behörden diesem auf die Spur kamen –, war nach Auffassung von VW kein Grund, früher mit solchen Kosten zu rechnen.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt wegen des Verdachts der Marktmanipulation etwa gegen den damaligen Konzernchef Martin Winterkorn, Ex-Finanzvorstand Pötsch, der heute Aufsichtsratschef ist, sowie gegen den heutigen Konzernchef Herbert Diess, damals Chef der Marke VW. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt zudem gegen Winterkorns Nachfolger Matthias Müller in seiner Ex-Funktion als Vorstandsmitglied der Porsche-Holding. Seit Kurzem läuft die Akteneinsicht im Braunschweiger Verfahren.

Musterverfahren könnte Jahre dauern

Aus den Ermittlungen werden Aussagen bekannt, dass der Vorstand vom Betrug gewusst habe und dass er vor erheblichen Strafen gewarnt worden sei. VW hält dagegen, die Erwähnung einer möglichen Maximalstrafe sei gängige Praxis. Daraus könne nicht abgeleitet werden, dass sie auch erwartet wird.

Wegen des großen öffentlichen Interesses und der Vielzahl an Beteiligten tagt das OLG in der Braunschweiger Stadthalle. Das Musterverfahren könnte Jahre dauern, wenn es nicht mit einem Vergleich endet.