Berlin. Eine Studie offenbart eine neue Dimension beim Schwindel mit Abgas- und Verbrauchswerten. Der Verkehrsminister gerät in Erklärungsnot.

Bei zahlreichen Autoherstellern ist die Täuschung ihrer Kunden offenbar Teil des Geschäftsmodells. Verbrauchsangaben bei Fahrzeugen sind häufig wertlos. Diesen Schluss legt eine Studie der Umweltorganisation ICCT nahe, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Sie offenbart: Zwischen Herstellerangaben und tatsächlichem Verbrauch liegen Welten.

Was sind die neuen Erkenntnisse?

Der International Council On Clean Transportation (ICCT) hat bei europäischen Neuwagen eine Kluft zwischen den Verbrauchsangaben der Hersteller und dem tatsächlichen Verbrauch aufgedeckt. Die Fahrzeuge schlucken durchschnittlich 42 Prozent mehr als behauptet. Käufer zahlen dadurch jährlich rund 450 Euro mehr für Treibstoff.

Bei drei Millionen verkauften Neuwagen in 2015 summieren sich die Zusatzkosten auf über 1,3 Milliarden Euro. Das ICCT hat die Daten von rund einer Million Fahrzeuge ausgewertet, darunter Straßentests von Automobilklubs und Tankdaten von Leasingfirmen. Danach nahm die schon lange bekannte Abweichung der realen Verbrauchswerte von den Angaben der Hersteller stark zu: von 9 Prozent in 2001 auf aktuell 42 Prozent.

Wie werden Abgaswerte manipuliert ?

Laut ICCT nutzen die Hersteller verstärkt vorhandene Schlupflöcher bei der Abgasmessung. Möglichkeiten dazu gibt es viele, sagt Verkehrsexpertin Dorothee Saar von der Deutschen Umwelthilfe. Zu den Tricks gehörten besondere Reifen, zugeklebte Luftschlitze oder abmontierte Außenspiegel. Auf dem Prüfstand selbst werde beispielsweise die Lichtmaschine für die Probefahrt entfernt. Die elektrische Versorgung übernehme die Batterie, was den Spritverbrauch senke.

Wie reagiert die Bundesregierung?

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) kennt die Vorwürfe schon lange. Das ihm unterstehende Kraftfahrt-Bundesamt hat infolge des VW-Skandals auch den realistischen CO2-Ausstoß nachgemessen. Die Ergebnisse hält das Ministerium bisher unter Verschluss.

Laut „Spiegel“ weichen die ermittelten Abgaswerte teils erheblich von den offiziellen Angaben ab. Kritiker werfen Dobrindt deshalb eine Kungelei mit der Autoindustrie vor. Auf europäischer Ebene arbeite man an der Weiterentwicklung der Prüfverfahren, hieß es gestern auf Anfrage aus dem Verkehrsministerium. Und: Tests über die Verbrauchswerte sollten künftig näher an den realen Verbrauch heranführen.

Was sagt die Industrie?

Der Verband der Automobilindustrie (VDA) räumt eine Diskrepanz bei den Werten ein. „Das liegt vor allem an dem veralteten Messverfahren, das die heutige Realität der Modelle und des Straßenverkehrs nicht mehr adäquat widerspiegelt“, teilt der VDA mit. Sitzheizungen oder Radios, die den Verbrauch erhöhen, würden nicht berücksichtigt.

Die Ergebnisse des ICCT seien aufgrund der Datenbasis nur bedingt belastbar, warnt der Verband. „Mit der Einführung eines neuen Prüfzyklus mit präzisierten Randbedingungen und den Straßenmessungen im kommenden Jahr werden die Angaben künftig realistischer sein.“

Was meinen Verbraucherschützer?

Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hält die derzeitigen Verbrauchsangaben für wertlos. „Der Verkehrsminister muss die Untersuchungsergebnisse offenlegen und erklären, was dies für die Verbraucher bedeutet“, fordert die vzbv-Verkehrsexpertin Marion Jungbluth.

Welche Forderungen werden laut?

Die Umwelthilfe will Modelle stilllegen, deren Messwerte zu sehr von den genehmigten Werten abweichen. Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch: „Die Automobilindustrie betrügt immer dreister. Ihre Verbrauchs- und CO2-Angaben sind nicht falsch, sondern gefälscht.“ Die Diskrepanz nehme stetig zu.

„Die Autoindustrie gaukelt vor, dass die Autos immer sparsamer werden. Dabei bleiben die realen Werte seit fünf Jahren gleich. Das ist Betrug.“ Resch wirft Dobrindt vor, durch das Zurückhalten der tatsächlichen Messergebnisse mögliche Strafverfolgungen gegen die Autokonzerne zu verhindern.

„Herr Dobrindt betreibt Strafvereitelung im Amt.“ Ähnlich äußert sich Axel Friedrich, Ex-Chef der Verkehrsabteilung beim Umweltbundesamt. „Es wird getäuscht und getrickst“, sagt er über die Hersteller. Besonders störe ihn, dass weder das Kraftfahrt-Bundesamt, noch die von den Manipulationen betroffenen Ministerien für Verkehr, Umwelt und Finanzen etwas unternommen hätten. „Die Politik wiegelt nur ab und verschleiert.“ Grund dafür sei die Macht der Autolobby in Berlin. „Die Autoindustrie nimmt entscheidenden Einfluss auf die Regierungsarbeit.“

Was wusste Dobrindts Ministerium?

Möglicherweise mehr als bisher bekannt ist. Dafür jedenfalls sprechen Recherchen des „Stern“. Danach einigten sich fünf VW-Manager und zwei Anwälte der Großkanzlei Freshfields bei einem Treffen mit Dobrindt-Mitarbeitern am 19. November 2015 in Berlin darauf, „dass die bislang kommunizierte bewusste Manipulation der CO2-Werte ... nicht aufrechterhalten wird“.

Vielmehr werde „nunmehr vertreten, dass bislang nicht geklärt werden konnte, welche Gründe die zu hohen CO2-Angaben hatten“. Dobrindts Beamte nahmen das „zustimmend zur Kenntnis“. So steht es in einem Protokoll des Gespräches, aus dem der „Stern“ zitiert. Das Gesprächsprotokoll liegt auch dieser Zeitung vor.