Griechenland kämpft gegen die wachsende Not seiner Bevölkerung, Einwanderer und Flüchtlinge. Ein Besuch bei einer Essensausgabe in Athen

Athen. Eine Schlange von mehr als 200 Menschen drängt in einen Hof im Zentrum von Athen. Um 15 Uhr wird ihnen Essen gegeben, warmes Hühnchen mit Reis steckt an diesem Nachmittag in den Aluminiumverpackungen, dazu gibt es Weißbrot sowie Besteck aus Plastik. Es ist der Tag, an dem Griechenlands Ministerpräsident Giorgos Papandreou im Parlament gegen seinen politischen Niedergang kämpft. Diejenigen, die hier stehen, sind bereits ganz unten angelangt. Sie haben keine Hoffnung mehr auf einen Aufstieg.

+++ Gnadenfrist für Papandreou +++
+++ Papandreou wird in jedem Fall zurücktreten +++

Von der Straße kommen Menschen nach. Die meisten sind Einwanderer aus Arabien und Zentralasien, Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran, Irak. Einige Frauen tragen Kopftücher und halten Kinder auf dem Arm. In der Menschenschlange wird gedrückt, gerangelt, gepöbelt. Aufseher, die so aussehen, als könnten sie selbst inmitten der Wartenden stehen, versuchen für Ordnung zu sorgen. Auch Einheimische aus Athen sind unter den Wartenden, ältere Frauen und Männer, die mit ausdruckslosem Gesicht Meter um Meter nach vorn zur Ausgabe rücken. Manche der Bedürftigen verlassen zügig den Ort mit ihrer Ration in der Hand, andere essen den Inhalt an einem Mauervorsprung oder an einem Platz weiter hinten gleich auf. Die meisten nehmen nur eine Ration mit, andere drei oder vier für sich und ihre Angehörigen.

Dreimal am Tag werden die Armen im Zentrum der Stadt an diesem Ort versorgt. "Für die Ausgaben um 12 Uhr und um 18 Uhr ist die Stadt verantwortlich, sie richten sich vor allem an Einheimische", sagt Vasilios Meichanetsidis, 37, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Mission, die vom Erzbistum Athen getragen wird. "Die Verteilung der Ration um 15 Uhr ist offen für alle. Aber wir versuchen, wenn möglich, Einwanderer und Einheimische zu trennen. Viele der Migranten hier gehören zu ethnischen oder nationalen Gruppen, die sich in Stammesfehden oder in Kriegen früher bekämpft haben und die sich auch im Exil noch hassen. Es kommt schnell zu Handgreiflichkeiten untereinander."

Das Hilfswerk Mission der Orthodoxen Griechischen Kirche organisiert und finanziert die Essensverteilung hier am Nachmittag. Auch andere Kirchen beteiligen sich an der Hilfsaktion. Oft steht auch Canon Malcolm Bradshaw, 66, mit auf dem Platz, der Priester der Anglikanischen Kirche in Athen. Seit Beginn der Aktion vor drei Jahren unterstützt er das Projekt für die Ausgegrenzten. "Es werden immer mehr", sagt der ältere Herr, der eine grüne Barbourjacke über seiner Soutane trägt.

Der griechische Staat und die Kirche des Landes kämpfen auf Plätzen wie diesen, vor allem in der Hauptstadt und in anderen Städten des Landes, einen Kampf, den sie wohl nicht gewinnen können. In Griechenland wächst die Armut. Zugleich drängen über das wirtschaftlich und politisch schwer angeschlagene Mittelmeerland immer mehr Einwanderer nach Europa - illegale wie asylsuchende gleichermaßen, vor allem aber solche, die Griechenlands Lage zunächst weiter verschlechtern.

Drei Hauptstraßen bilden ein Dreieck nördlich der Akropolis im Stadtzentrum. Die westliche Hälfte davon, das Viertel Psiri, bevölkern vor allem Einwanderer aus Asien. Ganze Straßenzüge sind gesäumt mit Läden chinesischer oder arabischer Inhaber. Die Gebäude rundherum, teils schöne alte Stadthäuser, verfallen. "Die Immigranten verdrängen die Einheimischen", sagt Meichanetsidis. "Viele von ihnen bringen Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution mitten in diese Stadt. Sie machen unser Land kaputt, das seine Probleme ohnehin kaum noch bewältigen kann." Der Kirchenmann steckt in einem Zwiespalt: Barmherzigkeit gebietet sein Glaube. Aber an Plätzen wie dem Hinterhof in der Straße Sofokleous wird Barmherzigkeit auch denen zuteil, die er als Zuwanderer in seiner Heimat nicht unbedingt sehen möchte: vor allem jene illegalen Migranten, die bevorzugt über die Türkei nach Griechenland eingeschleust werden und die zumeist moslemischen Glaubens sind.

Bei den öffentlichen Speisungen werden die Probleme Griechenlands so deutlich wie kaum sonst. "Als wir vor drei Jahren mit diesem Hilfsprogramm begannen, war es vor allem für Migranten gedacht, nur etwa 20 Prozent der Empfänger waren damals Griechen", sagt Costis Dimtsas, 43, Leiter von Mission und früherer Journalist. "Mittlerweile sind 60 Prozent der Teilnehmer Griechen. Aber gleichzeitig steigt die Zahl der Einwanderer weiter an. Allein 800 000, schätzen wir, leben im Großraum Athen, gut eine Million in Griechenland insgesamt."

Die Armut wachse wie ein Geschwür durch das Land, sagt Dimtsas. Allein an 72 Ausgabestellen in Athen verteile Mission täglich rund 10 000 Essensrationen, dazu verschicke die Organisation bis zu 1500 Pakete im Monat an hilfsbedürftige Familien. Bis zu 150 000 Euro im Monat wende Mission für die Armenspeisungen auf. Das sei der größte Teil im Budget seiner Organisation, mit dem man ursprünglich ein viel weiter gefächertes Programm an Sozial- und Bildungsleistungen habe finanzieren wollen. "Die Orthodoxe Kirche in Griechenland ist sicher wohlhabend", sagt er, "aber auch der Kirche gehen mit der Wirtschaftskrise die Mittel irgendwann aus." Die Mehrheit der Hilfsbedürftigen seien Griechen von 51 Jahren und älter. Und selbst in den wohlhabenden Stadtvierteln nehme der Bedarf an karitativ finanzierten Essensrationen mittlerweile zu.

"Die armen Menschen hierzulande, vor allem die Rentner, geben ihr weniges Geld für öffentliche Abgaben, Miete und Medikamente aus. Für Lebensmittel bleibt nichts übrig. Griechenland kann seine armen Menschen nicht mehr selbst ernähren. Europa sollte verstehen, was hier geschieht, und uns nicht im Stich lassen", sagt Dimtsas an seinem Schreibtisch vor einer Ikone der Heiligen Mutter Maria mit dem Jesuskind. Die Organisation Mission betreibt ihre Arbeit kaum verhüllt auch als Abwehr gegen die wachsende Überfremdung im Land.

Efthalia Pappa, 50, handelt mit ihren Mitarbeiterinnen bei der Organisation Ecumenical Refugee Programme aus einer anderen Motivation heraus. Auch ihre Projekte werden von der Orthodoxen Kirche Griechenlands finanziert, obendrein vom Staat und vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Doch Pappa leitet vor allem das Motiv, Menschen aus tiefstem Elend herauszuhelfen. Das Büro ihrer kleinen elfköpfigen Truppe ist eine umfunktionierte Altbauwohnung im Norden des Athener Zentrums, nicht weit entfernt vom nationalen Kriegs- und Militärmuseum. Die Räume sind vollgestellt mit Schreibtischen und Sitzmöbeln, hauptsächlich aber mit Tausenden Akten in Pappordnern. Jedes Dokument enthält das Schicksal eines Flüchtlings oder einer Familie. Die Juristin Pappa und ihre ebenfalls rechtlich geschulten Kolleginnen helfen Flüchtlingen, die in Griechenland Asyl für die Europäische Union beantragen. "Wir haben derzeit 3500 schwebende Fälle."

Es sind zumeist schlimme Fälle - Eltern, die ihre Kinder auf der Flucht in andere europäische Länder in Athen zurücklassen, schwangere Frauen ohne Aufenthaltsgenehmigung, Migranten ohne jede Vorstellung von Recht und Gesetz in Europa, die mit Schleuserbanden ins Land kamen. Pappa und ihre Kolleginnen vertreten deren Anliegen vor der Einwanderungspolizei, helfen in persönlichen Angelegenheiten, organisieren und finanzieren mitunter DNA-Tests, um Straßenkinder wieder mit ihren Eltern irgendwo in der Fremde der EU zusammenzubringen.

Die Krise ihres Heimatlandes hat Pappa und ihre Organisation mehrfach getroffen. Der Staat bezahlt seit Anfang 2011 die Reisekosten für die Zusammenführung von Flüchtlingsfamilien in Europa nicht mehr. Griechenland kann oder will diesen Teil seiner europäischen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen. Obendrein bleiben die Mittel für viele Hilfsprojekte zugunsten von Asylanten aus. "Wir bekommen unsere Gehälter teilweise gar nicht mehr oder nur mit vielen Monaten Verzögerung", sagt Pappa und ringt um Beherrschung zwischen den Pappschubern in ihrem Büro.

Die Sozialarbeiterin kennt die Vorurteile, die man im Ausland über angeblich faule Griechen beharrlich schmiedet. Verstehen kann sie das vor allem deshalb nicht, weil sie schon in vielen europäischen Ländern und auch in Kanada gelebt hat und so auch andere Lebenssitten kennt. "Wir arbeiten hier an den meisten Tagen zwölf, 14, 16 Stunden. Vielleicht tun das nicht alle Menschen in Griechenland, aber die meisten kämpfen hart um ihren Lebensunterhalt", sagt Pappa.

Die tiefe Krise ihres Heimatlandes führt auch sie und ihre Mitstreiterinnen an den Rand der Möglichkeiten. Sie selbst verdiene seit Jahren etwa 1000 Euro brutto im Monat. Seit Beginn der Wirtschaftskrise vor zwei Jahren aber habe der Staat die Abgaben massiv erhöht. "Angestellte wie wir müssen mittlerweile zwei Drittel unseres Einkommens abführen. Manchmal wissen wir nicht mehr, wovon wir unseren Lebensunterhalt bestreiten sollen."

Zum Abschied sagt Efthalia Pappa etwas, das im Getöse all dieser sozialen Beben nach Weitsicht und Nächstenliebe klingt. "Wir haben täglich mit Menschen zu tun, die bittere Not leiden. Wir wissen, wie gut es uns selbst geht. Wir werden uns unsere Werte von dieser Krise nicht nehmen lassen."