Eine junge Frau betrügt ihren Freund mit dem Snowboardlehrer. Ein Journalist auf Pressereise schläft lustlos mit der PR-Betreuerin. Ein anderer Journalist stirbt. Und weil am nächsten Tag Abreise ist, kann das alles schnell wieder vergessen werden. In Erinnerungen gepackt und abgeheftet. Das Leben geht weiter. Dumm nur, wenn es, wie in diesem Fall, am nächsten Tag eben nicht weiter geht - weil der Pass verschneit und die einzige Zugangsstraße gesperrt und das Vergessen und Verdrängen plötzlich nicht mehr möglich ist. Der Betrug wird auffliegen, die Peinlichkeit des One-Night-Stands im Raum stehen bleiben. Und der Tote wird einfach nicht abgeholt. Also halten Karin und Paul, die junge Frau und der Journalist, Wache bei ihm - eine Totenwache zweier Fremder in einem eingeschneiten Wintersportort. Wo sie sich ihr Leben so offen, ehrlich und direkt erzählen, wie es nur gegenüber einem Unbekannten möglich ist. Verena Carl - Schriftstellerin ("Lady Liberty") und Journalistin - legt mit ihrem zweiten Roman "Eine Nacht zu viel" eine stille, starke Erzählung vor. Zwei Menschen, zwei Geschichten, zwei Leben. Schnörkellos lässt sie die beiden Protagonisten durch ihre Schicksale treiben, lässt sie Erkenntnisse sammeln und Entdeckungen machen, ohne altkluge Ratschläge zu erteilen. Dass der Roman in der Abgeschiedenheit der Berge spielt, ist dabei geschickt gewählt. Die entlarvte Künstlichkeit des Skiortes, die für zwei Wochen ganz prima, aber zwanghaft verlängert eben überhaupt nicht funktioniert, bildet einen Mikrokosmos der Lächerlichkeit. Die undurchdringliche Schneedecke dämpft Gefühle und Erwartungen und verstärkt sie zugleich. Wie Geräusche, die der Schnee schluckt, während er die Farben gleichzeitig verstärkt. Verena Carl kommt aus der Poetry-Slam-Bewegung, sie weiß, mit welchen Gags man Punkte sammelt. Dennoch, und das ist ihre große Stärke, erliegt die 34-Jährige nicht der Versuchung, mittels hipper Fast-Food-Lektüre Befindlichkeiten publikumswirksam aufzubereiten, sondern lässt sich Zeit, ihre Figuren, Geschichten und Emotionen zu betrachten und kennen zu lernen. (Maike Schiller)

  • Verena Carl: Eine Nacht zu viel. Marion von Schröder Verlag, 144 Seiten; 14 Euro. Am 11. 11. um 20 Uhr liest die Autorin im "Macht-Club" im Malersaal (Schauspielhaus), Eintritt: 9 Euro.