Heimlich lauscht der junge Isaac den Richtersprüchen seines Vaters, einem Warschauer Rabbiner. Amüsante Milieustudien zum 100. Geburtstag von Issac Bashevis Singer.

Es gibt Orte, die existieren nur noch in Büchern. Und nur das Lesen kann sie für kurze Augenblicke zurückholen.

Das Schtetl ist ein solcher Ort. Diese kulturellen Enklaven der osteuropäischen Juden, die im Zweiten Weltkrieg mitsamt ihren Bewohnern dem faschistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. Nur in der jiddischen Literatur überlebten diese Städte in den Städten. Auch der 1904 in Radzymin, Polen, geborene Isaac Bashevis Singer hat in unzähligen Geschichten das Leben im Warschauer Schtetl beschrieben und 1978 dafür den Literaturnobelpreis erhalten.

Aus Anlass seines 100. Geburtstages legt der Carl Hanser Verlag nun nach "Das Visum", "Max der Schlawiner" und "Meschugge" mit dem Band "Ein Bräutigam und zwei Bräute" 27 weitere, erstmals auf Deutsch erschienene Geschichten aus dem Nachlass des 1991 verstorbenen Schriftstellers vor. Wie in den kurzen Erzählungen, die der Autor nach seiner Emigration 1935 in die USA im "Jewish Daily Forward" veröffentlichte (1966 in dem Band "Mein Vater der Rabbi" publiziert), geht es auch in den nun wieder entdeckten Texten um das "beth din", das rabbinische Gericht.

Als Sohn eines Rabbiners bekam es der junge Isaac in Warschau immer mit, wenn ein junges Paar seinen Vater aufsuchte, um zu heiraten, sich zwei Eheleute scheiden lassen wollten oder ein Schiedsspruch in irgendeiner anderen Angelegenheit gefragt war. Und so erzählt Singer denn auch autobiografisch aus der Perspektive des heimlich lauschenden Kindes, das auch mal Dinge hört, die eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt waren.

Etwa, dass der alte Bräutigam, der eines Tages auftaucht, nicht nur zwei Bräute hat, sondern sich noch gar nicht von seiner ersten Frau hat scheiden lassen. Oder von der Schächtersfrau, die sich von ihrem Mann trennt, weil der nicht koscher schlachtet, kurz drauf aber einen ungehobelten Fleischer ehelicht. Kleine Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Einfach erzählt sind sie weniger Kunstwerk als viel mehr realistisches Abbild des orthodoxen Ostjudentums.

Kaum entwickelt ist noch die fantastische Komponente, die Singers spätere Arbeiten auszeichnet. An die großen Romane "Feinde, die Geschichte einer Liebe" (1972) und "Die Familie Moschkat" (1950) reichen die Schreibübungen, die immer die gleiche Erzählperspektive und Ausgangssituation haben, nicht heran. Auf einige der ähnlichen Texte hätte man zu Gunsten eines einordnenden Nachwortes getrost verzichten können. Als naive Milieustudien haben die Erzählungen dennoch ihren Platz in der Literaturgeschichte.

Isaac Bashevis Singer: Ein Bräutigam und zwei Bräute. Hanser Verlag, 216 Seiten; 17,90 Euro.