Berlin . Wieder letzter Platz für Deutschland beim ESC. Hat Europa die Deutschen nicht lieb genug? Wie unser Chef-Kolumnist den Flop bewertet.

Bevor wir in der gekränkten deutschen Seele gründeln, bevor wir eine europaweite Verschwörung wittern oder uns beleidigt aus dem ESC verabschieden, zunächst die Fakten. Welche Künstler holten seit der Jahrtausendwende für Deutschland einigermaßen ordentliche Platzierungen beim europäischen Sangeswettstreit?

2018 errang Michael Schulte Platz vier, Roman Lob machte 2012 Platz acht genauso wie Max Mutzke 2004. Den letzten Sieg schaffte die mitreißende Lena Meyer-Landrut 2010. Erkennen wir ein Muster? Aber ja. Talentierte, sympathische und nicht übermäßig egomanische Einzelkünstler trugen ohne viel Lametta solide arrangiertes Liedgut vor, das nicht völlig neben dem Zeitgeist lag. Einzelleistungen also, aber nicht unbedingt das Ergebnis systematischer Förderung.

Kolumnist Hajo Schumacher ist nicht überzeugt.
Kolumnist Hajo Schumacher ist nicht überzeugt. © Maurizio Gambarini/Funke Foto Services

Deutscher Beitrag: Blutrünstiger Songtext inmitten eines Angriffkriegs

Lenas Siegersong „Satellite“, produziert von einem Dänen und ausgewählt vom unabhängigen Unterhaltungsprofi Stefan Raab, steckt bis heute tiefer in unseren Gehörgängen als dieses, äh, tja: Wie hieß der Beitrag unserer roten Latex-Band noch mal? Kann irgendwer den blutrünstigen Song spontan summen, geschmackvollerweise mitten in einem Angriffskrieg und auf einer Bühne vorgetragen, die eigentlich in der Ukraine hätte stehen sollen?

Sah die Hamburger Kajal-Truppe nicht ohnehin aus wie eine verspätete Kopie von Måneskin, den strahlenden Siegern von 2021? Was haben wir uns früher über die Beiträge von Balkanländern oder Zwergstaaten amüsiert, die bei ihren ersten Auftritten auf der ESC-Bühne mit zwanghaft erotisierten Kostümen und plumpem Gedröhne antraten? Heute gehören wir selbst dazu.

Allemagne Zero Points: Hat es Europa auf uns abgesehen?

Die schlichteste Erklärung für den letzten Platz liefert Entertainment-Rentner Thomas Gottschalk: „Wir werden vom Rest Europas doch verarscht.“ Aber vielleicht ist es noch einfacher, und unser popkulturelles Mittelmaß ist dem Rest Europas einfach egal. Ja, das Abwatschen der Großen hat Tradition beim ESC. Frankreich und Großbritannien haben in diesem Jahrtausend noch gar nicht gewonnen, dafür Estland, Lettland, Finnland, Aserbaidschan, Serbien, Portugal.

Deutschland belegte mit schlappen 18 Punkten den letzten Platz.
Deutschland belegte mit schlappen 18 Punkten den letzten Platz. © ARD/Das Erste

Dass sich ganz Europa allerdings abspricht, um Deutschland eins auszuwischen, weist vor allem auf die gute alte Hybris hin, diese größenwahnsinnige Fehlwahrnehmung, dass man anderswo nichts Besseres zu tun habe, als sich mit dem Teutonischen an sich zu befassen. Ehrlich wäre, das miese Abschneiden als das zu begreifen, was es ist: ein überdeutlicher Hinweis, wie es um den Musikstandort im Allgemeinen und die Lifestylekompetenz von ARD-Gremien im Besonderen bestellt ist. Lesen sie auch: Feminismus statt GoGo-Girls: So stark war die ESC-Nacht

Eurovision Song Contest: In Schweden wird Musik gefördert

Zufall, dass Schweden in den letzten zwölf Jahren dreimal gewann? Eher nicht. Jedes schwedische Kind ist gehalten, ein Instrument zu lernen, Englisch gilt nicht als kulturelle Bedrohung, sondern als zweite Muttersprache, die Regierung in Stockholm fördert jedes Jahr 30 Bands, bezuschusst Tourneen und erlaubt Musikern, in den ersten meist brotlosen Jahren von Sozialhilfe zu leben.

Nina Persson von der schwedischen Erfolgsband „The Cardigans“ bedankte sich einst ausdrücklich beim Staat für die Hilfe. Hierzulande darf man froh sein, dass das Kulturstaatsministerium immerhin schon den Film als kulturellen Standortfaktor entdeckt hat. Lesen Sie auch: ESC-Finale 2023: Die Bilder aus der Show in Liverpool

ESC: Es ist an der Zeit, die Realität zu akzeptieren

Das peinliche Gegreine Gottschalks und anderer erinnert an den Umgang mit den zuletzt mäßigen Leistungen von Fuß- oder Handballern. Es lassen sich 1000 Ausflüchte basteln, auch wenn die Wahrheit lautet: Es reicht einfach nicht. Der Musik- oder Sportstandort Deutschland wird nicht von außen geschwächt, es fehlt das Feuer im Innern.

Maulige Sattheit ist eben der Todfeind von Begeisterung und Anstrengungsfreude. Die anderen haben aufgeholt und überholt, Erfolge von einst werden nicht angerechnet. Schon deutet sich an, dass die deutsche Automobilindustrie im Rennen um Marktanteile bei E-Autos ebenfalls zurückfällt.

Der Platz im Mittelfeld ist ungewohnt für ein Land, das überzeugt ist, der Weltmeister sei in der eigenen DNA auf ewig verankert. Wer das glaubt, der sucht die Schuld bei anderen. Wer dagegen die Realität akzeptiert, der weiß, dass man einfach wieder besser werden sollte. Lesen Sie auch: Deutschland beim ESC:Lord Of The Lost mit "Blood & Glitter"