Berlin. Bei Medizinprodukten drohen Engpässe. Ärzte, Krankenhäuser, Hersteller laufen Sturm. Gesundheitsminister Lauterbach wirkt machtlos.

Wenn ein Baby mit einem schweren Herzfehler geboren wird, etwa Arterien vertauscht sind, kommt es auf rasches Handeln an. Dann wird mit einem Ballonkatheter die Lücke zwischen rechten und linken Vorhof vergrößert. Theoretisch ein Routineeingriff. In der Praxis: zunehmend ein Problem. Weil OP-Materialien fehlen.

"Es gibt einzelne Produkte, die es so im Moment praktisch nicht gibt", klagt Professor Matthias Gorenflo, ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler am Universitätsklinikum Heidelberg. Dann müsse man Kollegen in anderen Zentren ansprechen, "ob sie noch etwas übrig haben", erzählt er unserer Redaktion.

Krankenhäuser an Lauterbach: Immer mehr Alarmrufe

Gerald Gaß kennt solche Klagen und auch die notgedrungene Tauschwirtschaft. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) erzählt, "schon jetzt erreichen uns alarmierende Berichte aus den deutschen Krankenhäusern zu fehlenden Medizinprodukten, besonders bei Nischenprodukten, auch für Kinder und Neugeborene." Mehr noch: "Die Situation wird von Tag zu Tag schwieriger", gibt er im Gespräch mit unserer Redaktion zu bedenken.

Ärzte, Krankenhäuser, Hersteller von Medizinprodukten, ihre Verbände – sie alle schlagen Alarm, weil eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2017 offenkundig dazu geführt hat, dass Anbieter Produkte vom Markt nahmen oder in einer Bearbeitungsschleife festhängen. Denn die Prüfvorschriften sind aufwendiger geworden: anspruchsvoll, zeitraubend, teurer denn je.

Die bislang bei Neugeborenen verwendeten Ballonkatheter sind vom Markt verschwunden. "Die Krankenhäuser sind hier auf Lagerbestände und eine einzige nur unzureichende Alternative angewiesen", weiß Gaß. Die Medical Device Regulation (MDR) der EU sei "nichts anderes als ein totes Pferd, das man besser nicht mehr reitet", schimpft Kardiologe Gorenflo.

Kritik an EU-Regularien: Gut gemeint, schlecht gemacht?

Schlecht gemacht, aber gut gemeint. Denn: Die strengeren Vorschriften sind eine Konsequenz aus dem Skandal mit Brustimplantaten. Der Vorsatz: Mehr klinische Daten, mehr Überwachung.

Medikamente werden in Deutschland vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen. Die Medizinprodukte müssen ein Prüfverfahren bei privaten Anbietern wie TÜV oder Dekra durchlaufen und von ihnen zertifiziert werden.

Diese Zertifizierungsstellen müssen nach den EU-Vorgaben nun neu benannt werden. Das ist an sich schon aufwendig. Fakt ist, dass nach Verbandsangaben von zuletzt 59 noch 29 Stellen übrig geblieben sind.

Kleine Zertifizierungstellen sind teils verschwunden, bei den übriggebliebenen gibt es Kapazitätsengpässe, zumal sich auch der Prüfaufwand selbst erhöht hat. Also bereinigen Unternehmen ihr Produktportfolio, wo es unwirtschaftlich wird. Laut einer DKG-Umfrage im April sind bereits heute hunderte Produkte nicht mehr erhältlich.

Ärzte werden sich noch wundern, was alles fehlen wird

Sonderbar ist, dass auch Bestands- und Nischenprodukte den gleichen hohen Anforderungen unterliegen wie ein neues Instrument. "Das führt zur skurrilen Situation, dass ein Hüftimplantat, das seit 20 Jahren auf dem Markt ist, völlig neu zertifiziert werden muss", kritisiert Manfred Beeres, Sprecher des Bundesverbandes Medizinprodukte (BVMed), gegenüber unserer Redaktion.

Die Entwicklung finde leise statt, erläutert Professor Gorenflo. "Wenn ein Hersteller eine Produktlinie einstellt, werden Produkte abgekündigt. Das merken sie erst richtig, wenn sie nachbestellen wollen. Dann ist es weg." Im Mai 2024 läuft eine Übergangsfrist für die EU-Verordnung ab. Je näher der Termin, desto drastischer die Alarmrufe:

  • "Die Ärzte werden sich noch wundern, was sie demnächst alles nicht mehr auf den OP-Tischen finden werden“, sagt Professorin Ruth Kirschner-Hermanns, Urologin vom Uniklinikum Bonn.
  • „Dass es Kontrolle braucht, ist unbestritten. Dass Sicherheit an oberster Stelle steht, auch. Eine offensichtliche Überregulierung für neue Produkte kann aber nicht mehr mit Patientenschutz verargumentiert werden. Durch die Einschränkung von Innovationen werden Todesfälle produziert“, warnt Professor Wolfram Lamadé, stellvertretender Leiter eines Onkologischen Zentrums in Pforzheim.

Lauterbach soll bei der EU auf Korrekturen pochen

Die Ärzte erwarten, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf den Plan tritt. Die Bundesländer machen Druck, insbesondere Bayern und Baden-Württemberg, wo viele Hersteller sitzen. Auf EU-Ebene haben 30 Abgeordnete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Brief zu Korrekturen aufgefordert. Darin heißt es, die Verordnung gefährde Patienten. Wenn der Rechtsakt zur Folge habe, "dass Menschen wegen fehlender Herzklappen, Endoskope oder Katheter nicht operiert werden können, läuft etwas falsch".

Unter Druck: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) soll gegen eine Brüsseler Überregulierung bei der Zulassung von Medizinprodukten vorgehen. Vor allem bei Nischenprodukten droht ein Engpass, warnen Ärzte.
Unter Druck: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) soll gegen eine Brüsseler Überregulierung bei der Zulassung von Medizinprodukten vorgehen. Vor allem bei Nischenprodukten droht ein Engpass, warnen Ärzte.

Müssen für Nischenprodukte laschere Regeln her?

Die Abgeordneten beklagen, bislang seien nur 15 Prozent der Medizinprodukte neu zugelassen worden. Da das Verfahren 13 bis 18 Monate dauere, sehen sie keine Chance, dass bis Mai 2024 sämtliche Produkte ihre Genehmigung erhielten.

Die DKG fordert einen "dauerhaften Bestandsschutz" für langjährig eingesetzte und erprobte Medizinprodukte. Der BVMed wünscht sich Ausnahmeregelungen für Nischenprodukte. Und alle zusammen verlangen, wenigstens die Übergangsfrist zu verlängern.

"Menschen werden sterben, wenn sich nicht etwas tut."

DKG-Chef Gaß merkt seit einigen Wochen, "dass die Sorgen ernst genommen werden"; zuletzt trieben sie die 27-EU-Gesundheitsminister bei einem Treffen in Brüssel um. Aber er sagt auch, "ernst nehmen reicht nicht, es muss dringend konkret gehandelt werden." Und: "Wir dürften die Sommerpause jetzt nicht ungenutzt verstreichen lassen."

Lauterbach lehnt sich politisch nicht zu weit aus dem Fenster. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der CDU-Abgeordneten Diana Stöcker, räumt sein Ministerium ein, "die Europäische Kommission lehnt zum jetzigen Zeitpunkt gesetzgeberische Maßnahmen, wie etwa eine Verlängerung der Übergangszeit ab, da dies die Probleme nicht lösen, sondern nur verschieben würde".

Deutschland habe seine Unterstützung bei der Umsetzung pragmatischer Lösungen zugesichert, versichert das Ministerium. Eine politische Entwarnung sieht anders aus. Womöglich muss erst was passieren, damit was passiert. Auf einem Fachkongress sprach Kardiologe Gorenflo Klartext "Menschen werden sterben, wenn sich nicht etwas tut."

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.