Washington. Eine Amerikanerin wird monatelang sexuell missbraucht. Dann tötet sie ihren Peiniger – und muss in Haft. Jetzt könnte sie freikommen.

Im Grunde war Chrystul Kizers Leben im Sommer 2018 schon vorbei. Da war sie 17. Weil sie den Mann, der sie monatelang gewerbsmäßig sexuell missbrauchte hatte, mit zwei Kopfschüssen tötete, dessen Haus niederbrannte und mit dessen BMW das Weite suchte, bekam die junge Afro-Amerikanerin aus Kenosha wegen vorsätzlichem Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe.

In einem sensationellen Urteil hat das Oberste Gericht des US-Bundesstaates Wisconsin Kizer jetzt unerwartet eine zweite Chance gegeben.

Gegen den erbitterten Widerstand der Staatsanwaltschaft entschieden die Richterinnen und Richter mit 4:3 Stimmen auf Basis eines bisher so noch nie angewendeten Gesetzes, dass Chrystul Kizer in einem neuen Prozess ihre brutale Tat gegen den damals 34 Jahre alten Randall Volar als unmittelbare Konsequenz des illegalen Sexhandels verteidigen darf. Folgen die Geschworenen ihr, könnte sie im für sie besten Fall auf freien Fuß kommen.

„Logische Verknüpfung” zwischen Missbrauch und Tat herstellen

Das besagte Gesetz gesteht Missbrauchsopfern eine „bekräftigende Verteidigung” zu für „jedes begangene Vergehen, das eine direkte Folge des sexuell geprägten Menschenhandels ist” - also auch vorsätzlicher Mord (first-degree murder). Kizer müsse in einem neuen Prozess die „logische Verknüpfung” zwischen Missbrauch und Tat darstellen, schreiben die Höchstrichter.

Wisconsins Vize-Justizminister Timothy Barber sieht bereits einen Dammbruch heraufziehen. Sollte Kizer am Ende recht bekommen, was einer beispiellosen Ausdehnung des Rechts auf Selbstverteidigung gleichkäme, würden sich nicht nur in Wisconsin alle Fragen erübrigen, „ob es vertretbar ist, einen Menschen zu töten”, sagte er.

Dagegen sieht die Anwältin Lindsey Riff, die auch Opfer des im Gefängnis gestorbenen Promi-Sexualstraftäters Jeffrey Epstein vertritt, den Ausgang eines neuen Verfahrens als Bewährungsprobe für das Strafjustiz-System bei der Bewertung der speziellen psychischen und physischen Traumata von Opfern von sexuellem Missbrauch.

Peiniger wollte Opfer die Jeans vom Leib reißen

Laut Chrystul Kizer saß Volar kurz vor den tödlichen Schüssen auf ihr und wollte ihr die Jeans vom Leib reißen. Mit anderen Worten: unmittelbare Gefahr.

Die Anbahnung eines neuen Prozess, der noch nicht vollständig gesichert ist, kann zweischneidig sein. Rechtsexperten halten es nicht für ausgeschlossen, dass Kizer dabei nicht freigesprochen wird. Sondern, dass in ihrem Fall „vorsätzlicher Mord” zu „Mord mit bedingtem Vorsatz” herabgestuft werden könnte. Was immer noch bis zu 60 Jahre Gefängnis bedeuten würde.

Käme es zum Verfahren, würde mit einer aus Sicht von Opferverbänden traurigen Tradition gebrochen. In vergleichbaren Sex-Menschenhandels-Fällen mit tödlichem Ausgang für den Missbrauchstäter, wurde das erlittene Leid der jungen Frauen meist nicht als entlastendes Beweismaterial zugelassen.

Chrystul Kizers Fall ist landesweit bekannt. Unterstützer sammelten seinerzeit 400.000 US-Dollar für die Kaution ein, damit die junge Schwarze bis zum Prozess zu Hause in Milwaukee bleiben konnte.

1,5 Millionen Amerikaner fordern Gnade für Kizer

Über 1,5 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner haben außerdem eine Petition unterzeichnet, wonach alle Strafmaßnahmen gegen Kizer prinzipiell ausgesetzt werden sollen.

Begründung: Sie haben sich gegen ihren Peiniger gewehrt, der bis zu seinem Tod mit Wissen der Polizei in Kenosha über mehrere Monate minderjährige schwarze Mädchen, manche nicht älter als 12, sexuell ausgebeutet hatte. Volar hatte seine Taten zum Teil auf Video festgehalten. In einem Mitschnitt war Chrystul Kizer zu sehen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.