Jerusalem. Die Corona-Zahlen in Israel gehören zu den höchsten weltweit – aber die Regierung in Jerusalem stemmt sich nun nicht mehr dagegen.

  • Israel lässt laufen: Lange stand das Land für einen harten Kurs im Kampf gegen Corona
  • Doch damit ist nun Schluss: Israel hat den Kampf gegen Corona aufgegeben
  • Was bedeutet das? Wie gehen die Menschen damit um? So ist die Lage vor Ort

Nurit A. ist eine sportliche Frau, die selten erkrankt. Seit zehn Tagen kämpft die 57-Jährige nun mit Kopfschmerzen, Schnupfen und dem Gefühl, dass die Wegstrecke vom Badezimmer zur Küche sich so anfühlt wie ein stundenlanger Marsch.

Dabei ist die Pädagogin aus der Küstenstadt Haifa im Norden Israels offiziell gar nicht krank: Ihr Positivtest scheint in keiner Datenbank auf. Die mehrmals täglich veröffentlichten Statistiken des Gesundheitsministeriums wissen nichts von Nurits Schnupfen und Fieber.

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Wohl eher 150.000 neue Corona-Fälle pro Tag

Experten schätzen, dass die rund 70.000 Neuinfektionen pro Tag, die es in Israel laut den Zählungen des Gesundheitsministerium gibt, nur etwa die Hälfte des tatsächlichen Aufkommens widerspiegeln. Tatsächlich sind es wohl eher 150.000 neue Fälle pro Tag.

Aber niemand weiß das so genau, denn die Regierung hat das Zählen aufgegeben. Sie ruft die Bevölkerung auf, sich Schnelltests zu besorgen. Die kosten zwar rund sieben Euro pro Stück, wegen der langen Warteschlangen vor den offiziellen Teststationen setzen dennoch viele auf Heimtests.

PCR-Tests nur für über 60-Jährige oder wegen Vorerkrankung

Wie viele Infizierte ihr positives Testergebnis den Behörden nicht melden, ist schwer abzuschätzen. Wie viele nicht in Quarantäne bleiben, obwohl sie es sollten, kann folglich nicht kontrolliert werden. Dazu kommt, dass Antigentests oft irren.

Die wesentlich zuverlässigeren PCR-Tests werden in Israel aber nur noch an über 60-Jährige und Menschen mit Vorerkrankungen vergeben. Grund: Die Labors kamen mit dem massiven Andrang nicht mehr zurecht. Auf die Frage, was er von der Corona-Strategie der Regierung halte, sagt ein Kioskbetreiber aus Haifa, was derzeit viele denken: „Strategie? So etwas gibt es nicht.“

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Zuvor noch Vorreiter in der Pandemiebekämpfung

Noch vor wenigen Monaten galt Israel als Vorreiterland in Sachen Pandemiebekämpfung. Aktuell sind mehr als 500.000 Menschen im Neun-Millionen-Einwohner-Land coronapositiv, Israel gilt als das Land mit der höchsten Pro-Kopf-Infektionsrate weltweit.

Israels Regierung hat die Kontrolle über die Epidemie nicht einfach verloren. Sie hat sie aufgegeben und an die israelischen Bürger delegiert. Immer wieder betonten Spitzenvertreter des Gesundheitsministeriums, dass es auf die „Eigenverantwortung“ der Menschen ankomme.

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Das Virus schafft sich seinen Lockdown de facto selbst

Auf den Vorwurf, man liefere die Kinder und Ungeimpften der Durchseuchung aus, sagte Gesundheitsminister Nitzan Horowitz: „Wir nehmen Omikron sehr ernst. Wir sehen aber auch die größeren Zusammenhänge.“

Gemeint sind dabei vor allem die Wirtschaft und der öffentliche Sektor. Regierungschef Naftali Bennett ist ein erbitterter Gegner eines Lockdowns, die Bildungsministerin eine Verfechterin offener Schulen. Da sich die Omikron-Variante aber viel rasanter ausbreitet als frühere Virusvarianten, schafft sich das Virus seinen Lockdown de facto selbst: Rund 650.000 Israelis sind derzeit in Quarantäne.

Arbeitgeber haben Mühe, Schichten zu besetzen, den Schulklassen kommen die Lehrer abhanden, in Spitälern fehlen Pflegekräfte, auch aus dem Parlament und der Regierung gibt es täglich neue Krankmeldungen. Und die Zahl der Infizierten steigt weiter an.

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    Schulkinder gar nicht mehr in Quarantäne

    Während die Kliniken seit Wochen am Limit arbeiten, setzt die Regierung auf immer kürzere Quarantänezeiten. Zu Beginn der Welle mussten geimpfte Infizierte zehn Tage zu Hause bleiben, nun können sie sich am vierten und fünften Tag mit je einem Antigentest freitesten, wenn sie symptomfrei sind.

    Schulkinder, die in Kontakt mit einem Infizierten waren, müssen ab Ende dieser Woche gar nicht mehr in Quarantäne bleiben. Sie müssen nur zweimal pro Woche einen negativen Antigentest vorweisen.

    Einige Epidemieexperten halten das für falsch. Die Welle werde dadurch nur noch verlängert, glaubt Doron Gazit von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Dass die Ärzte und Pflegekräfte nahe am Burn-out sind, während die Bars und Restaurants voll sind, sei „schwer mitanzusehen“, meint Gazit. Die Regierung setze auf Eigenverantwortung, aber die Bevölkerung komme mit dem Auftrag nicht zurecht.

    Mehr als halbe Million Menschen zweimal geboostert

    Anstatt Jüngere in ihrer Kontaktfreudigkeit einzuschränken, konzentriert sich die Regierung vor allem auf den Schutz der Älteren und der Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Sie werden seit Ende Dezember zur vierten Impfung gerufen, mehr als eine halbe Million Menschen ist bereits zum zweiten Mal geboostert. Eine von der US-Gesundheitsbehörde CDC veröffentlichte Studie zeigt, dass die Booster-Impfung zu 90 Prozent gegen Hospitalisierungen wegen Covid-19 schützt.

    Ansonsten fallen aber nach und nach alle Schranken. Demnächst soll sogar der Grüne Pass, der Impfstatus oder Genesung nachweist, nicht mehr kontrolliert werden. Die Begründung: Für die Omi­kron-Variante macht es wenig Unterschied, ob man geimpft ist oder nicht.

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    Geimpfte Kinder stecken sich nur halb so oft an

    Dem widerspricht eine neue Studie im Auftrag des israelischen Gesundheitsministeriums. Demnach schützt die Impfung sehr wohl vor einer Ansteckung mit Omikron – allerdings nur dann, wenn die letzte Impfung nicht länger als vier Monate zurückliegt.

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      In der Studie wurden Daten von Kindern und Jugendlichen analysiert. Daraus geht hervor, dass sich geimpfte Kinder nur halb so oft mit Omi­kron anstecken wie ungeimpfte. Bei Teenagern, die in den vergangenen ein bis zwei Monaten geboostert wurden, ist das Ansteckungsrisiko für Ungeimpfte sogar viermal so hoch wie bei Geimpften.

      Infektionen könnten wieder nach unten gehen

      Trotzdem sind die ansonsten weniger impfskeptischen Israelis eher kritisch, wenn es um ihre Kinder geht. Seit mehr als zwei Monaten können sich fünf- bis elfjährige Israelis impfen lassen, aber nur 14 Prozent dieser Altersgruppe sind bislang vollständig geimpft.

      Immerhin: Schon kommende Woche könnte es mit den Infektionen wieder nach unten gehen, sagen mehrere Experten. Bis das auch in den Kliniken spürbar wird, kann es aber noch dauern. Am Montag wurden dort mehr als 800 schwer erkrankte Covid-19-Patienten gezählt. Fünf Tage zuvor waren es halb so viele.

      Gleichzeitig heftige Influenza-Welle

      Zwar sorgt die Omikron-Variante deutlich seltener für schwere Verläufe als Delta. Die Krankenhäuser kämpfen aber zeitgleich auch mit einer heftigen Influenza-Welle. Da fast 10.000 Klinikbeschäftigte wegen Quarantäne ausfallen, fehlt es an Personal, um die vielen Patienten richtig zu betreuen.

      Immer öfter werden daher Covid-19-Patienten aus den Kliniken in ambulante Betreuung verlagert. Am Montag rief der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, Nachman Ash, die Krankenhausleitungen auf, „nicht dringliche Eingriffe zu verschieben“.

      Selbst wenn die kommende Woche den Wendepunkt in der Infektionskurve bringt: Es dauert weitere zwei Wochen, bis dann auch weniger schwere Fälle auftreten. Schon in drei Wochen, so hofft man, könnte Israel dann aber in eine Art pandemischen Normalzustand zurückkehren – wenigstens bis zur nächsten dominanten Virusvariante.

      Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.