Berlin. In ihrem Buch „Sexuell verfügbar“ schreibt unsere Redakteurin Caroline Rosales über den Figurwahn ihrer Generation und der folgenden.

Unsere Redakteurin Caroline Rosales schreibt in ihrem neuen Buch „Sexuell verfügbar“ (Ullstein) über ihr Leben als Mädchen und Frau zwischen Anerkennung und Missbrauch im Alltag. Im Kapitel „Hunger Games“ geht es um ihre Jugend als Dauerdiät und das Massenphänomen Magersucht.

„Sexuell verfügbar“ von Caroline Rosales – ein Auszug

Ich bin niemand Besonderes und deshalb bin ich hierfür richtig. Weil ich perfekt dafür bin, den Durchschnitt einer jungen Frau von heute abzubilden. Ich werde nicht politisch oder religiös verfolgt, kenne kein Leben im Krieg, habe keine Flucht durchleiden müssen. Ich bin ganz normal im Sinne der DIN-Norm. Ich habe wenige Trennungen, kaum Enttäuschungen oder Schicksalsschläge erlebt, zumindest keine, die ich dafür gehalten hätte.

Aber dennoch habe ich Erfahrungen gemacht, Benachteiligungen gespürt und mich in eine Rolle gefügt, die bis heute nichts mit meinem ursprünglichen Ich zu tun hatte und mir bereits als Kind unlogisch erschien. Meine Rolle als Frau in der Gesellschaft ist für die Frauen und Mädchen meiner Generation, der davor und danach, von außen vorgegeben.

Ein kompliziertes Baukastensystem aus Erziehung, Handlungsempfehlungen und nett verpackten Tipps reguliert unser inneres und äußeres Erscheinungsbild. Wir durchschauen es und verstehen schnell: Es ist zu unserem eigenen Vorteil, sich daran zu halten.

Nutella gleich aus dem Glas gelöffelt

Aber wir fangen von vorne an. Ich heiße Caroline, bin 1982 in Bonn, der damaligen westdeutschen Hauptstadt geboren, bin 1,70 Meter groß, weder zu dick noch zu dünn – ja, leider bedarf das hier einer Erwähnung, denn damit ging alles los.

In meiner frühesten Kindheitserinnerung bin ich vier Jahre alt und esse wahnsinnig gerne. Ich matsche mir beim Abendessen Kartoffelpüree zusammen aus sehr viel Butter und einem Schuss Milch; ich löffele Nutella gleich aus dem Glas in der Küche, während meine Mutter im Wohnzimmer mit ihrer Freundin telefoniert. Vorteil Festnetz in den Achtzigern.

Als Model Anfang 20 wog Caroline Rosales nur 48 Kilo .
Als Model Anfang 20 wog Caroline Rosales nur 48 Kilo . © Privat | Privat

Damals konnten Kinder noch in Ruhe im Nebenzimmer etwas ausfressen. Von der Nutella-Aktion gibt es sogar ein Foto. Ich stehe als kleiner Lockenkopf auf einem Stuhl vor dem Kühlschrank, mit Nutella beschmiert und dem Glas in der Hand. Meine Mutter fand die Szene offenbar so witzig, dass sie ein Foto machte. Als ich sechs wurde, dann sieben, acht und neun Jahre alt sorgten mein Vater und sie sich offenbar um mich. Ich erinnere mich, dass wir in einem Raststätten-Restaurant in Belgien saßen und dort so eine Art Toast Hawaii aßen.

Meine Schwester, meine Mutter, mein Vater und ich. Meine Schwester bekam ihren Teller nicht auf, also übernahm ich. Mit kindlicher Freude aß ich auch den Rest vom zweiten Toast. Als ich dann noch nach dem Toastrest meiner Mutter fragte, schauten meine Eltern sich an.

„Caroline, du kannst nicht noch einen Toast essen. Das sind dann insgesamt drei Spiegeleier. Das ist sehr viel.“

Mein sechsjähriges Ich war enttäuscht und peinlich berührt. Wie konnte Essen etwas sein, das negativ konnotiert war, das rationiert werden musste? Aber natürlich konnte ich das noch nicht ausdrücken. Meine Eltern kommen aus Frankreich und sind eigentlich sehr Genuss-affin.

Mein Vater kochte wie der junge Bocuse – für Freunde, für uns Kinder. Meeresfrüchte, Bolognese, Knödel – und das an Wochentagen abends. Meine Mutter besetzte dagegen das Feld der feinen leichten Küche – Apfeltartes, Nizza-Salate mit Thunfisch, Ei, Sardellen und grünen Bohnen.

Deshalb glaube ich, dass sie es nicht böse meinten, als sie mir das dritte Spiegelei auf den Index setzten. Ich denke, sie waren als Reformhaus-Kunden eher um meine Gesundheit besorgt, aber eben auch um die Tatsache, dass ich als Mädchen nicht zu dick wurde. Dass ich als junge Frau mit einem Normalgewicht weniger Probleme haben würde, egal wo anzukommen, Freunde zu finden, den Beruf zu ergattern, den ich mir gewünscht hatte, war ihnen sehr bewusst.

Meine Eltern sorgten sich sehr um ein ideales soziales Umfeld für mich. Die beste Schule sollte es sein, gute Manieren, sie wollten, dass ich mich kultiviert ausdrücken kann, dass ich süß und beliebt bin und die Welt mich so liebt, wie sie mich lieben (irrsinniger Wunsch aller Eltern für ihren Nachwuchs).

Was mein kindliches Ich anging, war trotz aller elterlichen Bemühungen, mit meinem sechsten Lebensjahr dennoch das absolute Worst-Case-Szenario für Eltern heute, gestern und alle Zeiten eingetreten: Denn ich war pummelig bis übergewichtig, eigenbrötlerisch, merkwürdig und ein MOF – ein Mensch ohne Freunde.

„Schau mal, Caroline hat einen Ballon im Bauch“

Es gab die Mädchen in der Klasse, die Zöpfe und Kleider trugen, eine saubere Schreibschrift hatten – und es gab mich. Unkämmbare dicke Locken, lila Sweatshirts, Turnschuhe und wenn mal ein Kleid, dann unförmig aufgrund der Speckröllchen am Bauch und an den Hüften. Auf dem Höhepunkt meiner Demütigung hänselten mich die Mädchen in der Ballettstunde.

„Schau mal, die Caroline hat einen Ballon im Bauch. Hahahahaha.“ Und sie hatten Recht. Wenn ich an meinem Bauch heruntersah, waren da keine Füße, sondern nur ein kugeliger Kinderbauch, der aussah wie ein zerdrücktes Kissen.

Die Großmutter von Caroline Rosales: Hélène Hardy.
Die Großmutter von Caroline Rosales: Hélène Hardy. © Privat | Privat

Die Versuche, meine Mutter davon zu überzeugen, dass Ballett nicht meins war, fruchteten nicht und so sah ich mich den Hänseleien, zusätzlich zu denen in der Schule, jeden Freitag bei besagter Ballettstunde ausgesetzt. In der Schule teilte ich das Pausenbrot mit meiner einzigen treuen Freundin Angelika.

Es war eine Zweckgemeinschaft – zwei Außenseiter, zwei Loser, die sich die Einsamkeit versüßten und dennoch: besser, als ganz alleine zu sein. Und wir waren loyal zueinander. Das ist sehr, sehr viel wert. Angelika war zwar nicht dick und hatte kämmbare Haare, aber sie hatte eine Brille aus Glasbausteinen, die ihre Augen größer aussehen ließen, was ebenso zum totalen sozialen Ausschluss innerhalb der Klasse führte.

Ich weiß deshalb, was es heißt, eine der Abgehängten in der Schule zu sein. Es bedeutet, sich so zu verhalten, als würde man bestenfalls unsichtbar sein. Die maximale Toleranz: Sie dulden deine Präsenz, aber nur, solange du dich möglichst passiv verhältst.

Das heißt in der Praxis, mit dem Gong in die Garderobe zu gehen, eventuell Schubser oder Grapschereien seitens der Jungs zu ertragen. Die beliebten Mädchen lachten mit, wenn sich ein Junge traute, dir in den Schritt zu fassen.

Diesen Spießrutenlauf hinter sich gebracht, ging es auf den Schulhof, möglichst in die letzte Ecke hinter dem Spielhaus, da fielen Angelika und ich am wenigsten auf. Das konnte gut gehen, solange man nicht hier wiederum vor das Zielfernrohr der Jungs geriet.

„Aha, Caroline, was macht ihr denn da?“

Hörten wir diesen Satz, war das unschöne Ende der Pause vorprogrammiert. Mützen wurden vom Kopf gerissen, die Butterbrotdose ins Gebüsch geschmissen. Dann noch mehr unerlaubtes Anfassen. An die Brust. Zwischen die Beine.

Ich glaube, der Aufsichtslehrer klönte in der Zeit mit den Kollegen in der Raucherecke. Heute würde man von Mobbing, von sexueller Nötigung unter Schülern sprechen. Es würde Elterngespräche geben, vielleicht sogar ein Disziplinarverfahren gegen die Jungs, der Schulpädagoge immer auf Abruf.

Damals hieß das Dienstag. Rückblickend geht es mir hier nicht nur um das Verhalten der Jungs, einer Gruppe kleiner sechsjähriger Jungs, es geht mir vor allem um ein Mindset, um eine allgemeine Geisteshaltung, die mein Leben als Mädchen und junge Frau prägen sollte.

Seit meinem achten Lebensjahr zähle ich Kalorien

Ich spreche vom nachteilvollen, demütigenden, alles um dich herum absorbierenden Zustand, dick zu sein. Bis heute bin ich völlig davon überzeugt, dass es meiner natürlichen Form entsprechen würde, etwas molliger durch das Leben zu gehen, tatsächlich trage ich seit meinem 16. Lebensjahr Kleidergröße 38, seit meinem 25. Lebensjahr Kleidergröße 36, manchmal 34.

Das ist deshalb so, weil ich gefühlt seit meinem achten oder neunten Lebensjahr Kalorien zähle, meine Mahlzeiten plane, überlege, was ich heute essenstechnisch schon auf der Uhr habe.

Das darf man sich aber jetzt nicht so vorstellen, dass ich eine Kalorienzähl-App auf dem Smartphone habe oder ein kleines Notizbüchlein in meiner Handtasche. Aber, aber, das wäre doch völlig dilettantisch. Nein, das Aufrechnen von Ernährungswerten haben die Mädchen meiner Generation quasi mit dem Schulkakao aufgesogen.

Es ist eine tiefe innere Uhr, die mitläuft, manchmal, ohne dass wir das wollen, immer da, erbarmungslos addierend, quasi mit dem Aufstehen. 11 Uhr wach, eine Mahlzeit gespart, so kann der Tag starten. Gestern Abend beim Date im Restaurant ein Dessert mit zwei Löffeln bestellt – dann besser heute keine Schoki und sogar besser zum Yoga.

Ich wache auf und stelle fest, dass ich heute Abend noch zum Essen verabredet bin. Also ignoriere ich den Wunsch der Kollegen, mittagessen zu gehen. Und noch einmal: Ich mache das nicht bewusst. Es sind keine Gedanken auf der ersten Ebene. Sie laufen auf einer Frequenz, auf die ich keinen Zugriff habe.

Meine Großmutter Hélène ist im Norden Frankreichs aufgewachsen. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg zog sie sieben Kinder, meine Mutter, Onkel und Tanten groß. Doch dass sie sieben Kinder hatte, bedeutete für sie nicht, auch nur ein Gramm zuzunehmen, auch nicht im Alter.

Sie war eine Frau vom Land, aber liebte und nähte Haute Couture. Sie fertigte Kleider, Mäntel, Roben nachts an ihrer Nähmaschine an. Und natürlich wusste sie, dass Haute Couture, die Schnittmuster von Yves Saint Laurent und Christian Dior, die sie in Burda-Zeitschriften fand, nur an sehr knabenhaften Körpern gut aussehen würden.

Meine schöne Großmutter, der ich mich sehr ähnlich und nah fühle, sie kasteite sich ihr Leben lang. Keine Milch in den Kaffee, nur Milchweißer, absolut niemals Kuchen. In meiner Erinnerung isst sie Gemüse ohne Salz und hartgekochte Eier. Dafür, erzählte sie mir damals, sei sie immer die Schönste gewesen.

Sie habe nach ihren ersten vier Kindern so gut ausgesehen, dass Unbekannte, die meine Großeltern trafen, sie für die Geliebte und nicht die Ehefrau meines Großvaters hielten. So war das Gewicht die Maßeinheit der Attraktivität für meine Großmutter – trotz aller Emanzipation, die damals bereits durch die Einflüsse von Simone de Beauvoir vorherrschte.

Pommes esse ich bis heute nicht

„Pommes, das esse ich nicht. Ich würde nicht einmal auf die absurde Idee kommen, das zu tun«, sagte meine Freundin Nina einmal zu mir. Und ich überlegte.

„Bei mir sind es Chips, paniertes Fleisch, Gummibärchen. Das sind Dinge, die direkt aus der Hölle kommen, zumindest gibt es sie am Eingang zu kaufen“, antwortete ich. Nina und ich lachten, obwohl gar nichts lustig war. Vielleicht war das Lachen zynisch.

„Siehst du den Käsekuchen da vorne“, sagte ich zu Nina und zeigte auf den Kuchen in der Vitrine des Cafés, in dem wir saßen. „Ich könnte den jetzt komplett aufessen und ich würde es schaffen und hätte keine Bauchschmerzen.“

Nina schaute mich skeptisch an, aber es stimmte. Bis heute würde ich sagen, dass ich etwas bin, was man eine „dünne Dicke“ nennt. In meinem Kopf, in meinem Mindset bin ich mollig bis füllig, schaue ich an mir herunter, sehe ich meine Hüftknochen.

Die britische Feministin Laurie Penny schreibt in ihrem Buch Fleischmarkt, wie von der Pornografie bis zum Schlankheitswahn Diskurse auf den Frauenkörper einwirken, ihn überhaupt erst hervorbringen.

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      In meiner Erinnerung bin ich zehn Jahre alt und habe die Stückchen „Ritter Sport Nougat“ abgezählt. Ich sitze vor dem Fernseher und schaue die „Schlümpfe“, die vor der „Cosby Show“ auf Tele5 kommen, und beiße winzige Stücke ab. Für den Geschmack im Mund. Ich versuchte damals abzunehmen.

      Ich war es leid, in der Hackordnung der Klassengemeinschaft ganz unten zu stehen. Ich wollte auch mal gerne, dass sich ein Junge in mich verliebt oder zumindest, dass die anderen rosa Zopf-Mädchen behaupten, dass er in mich verknallt sei. Ich wäre gerne einen Tag normal gewesen.

      Also las ich die Diätzeitschriften meiner Oma, die eine halbe Stunde mit dem Auto von uns entfernt, in Bad Neuenahr wohnte. Ich fuhr jeden Tag Fahrrad, trieb wilden Sport, versuchte nicht mehr als einen Teller pro Mahlzeit zu essen. Ich war zehn Jahr alt und sorgte mich ernsthaft um meine Fuckability – im Hier und im Jetzt.

      Ein Auszug aus Caroline Rosales’ Buch „Sexuell verfügbar“ (Ullstein Fünf, 18 Euro)

      „Sexuell verfügbar“ von Caroline Rosales gibt es unter anderem bei Amazon zu kaufen.