Essen. Nur 50 Kilo bei 1,89 Meter: Das Magazin „Menschen hautnah“ berichtet über magersüchtige junge Männer. Ein Problem, das größer wird.

Mit angewidertem Blick steht Tim vor der Kuchentheke. Die Arme hält der 15-Jährige schützend vor sich, die Augen kämpfen hinter dem dunklen Pony angestrengt gegen den Ekel. Um seinen zerbrechlichen Oberkörper schlackert ein schwarzes Shirt. Tim ist angespannt, die Torten in der Auslage kann er kaum ansehen.

Was für jede Naschkatze ein wahrlich traumhafter Moment wäre, ist für den magersüchtigen Teenager die reinste Qual. Seit Jahren führt Tim seinem Körper nur noch ein Mindestmaß an Nahrung zu, hungert sich mit eiserner Disziplin zielsicher ins Untergewicht. Die Diagnose: Magersucht. In einer Klinik soll er lernen, die heimtückische Krankheit zu kontrollieren. Doch Moment mal, ist Magersucht nicht eigentlich eher Frauensache?

Bruch mit den Klischees

In der öffentlichen Wahrnehmung ist Magersucht noch immer das Leiden junger Mädchen, die sich in krampfhafter Selbstgeißelung an die Fotoshop-Realität der Bling-Bling-Modehefte heranhungern. Männliche Betroffene hingegen leiden oft unter einer doppelten Stigmatisierung. Schließlich sollten echte Mannsbilder ja nicht mit labilem Frauenkram zu kämpfen haben.

Die Dokumentation „50 Kilo bei 1,89 Meter“ aus der Reihe „Menschen hautnah“ begleitet nun zwei junge Männer bei ihrem Kampf gegen die vermeintliche Mädchenkrankheit – und bricht dabei auf erfrischend ehrliche Art mit gängigen Klischees.

Denn Tim und der Co-Protagonist Raimund sind alles andere als Ausnahmeopfer. Filmemacherin Barbara Schmickler beschreibt die beiden trotz ihres Sonderstatus’ gekonnt als ganzheitliche Menschen, die weit mehr sind als ihre Symptome. Auf einfühlsame Art schafft sie so ein ehrliches, manchmal erschütternd realitätsnahes Gesamtbild einer perfiden Krankheit – unabhängig vom Geschlecht des Patienten.

Frühstück verpasst – Kalorien gespart

Dabei sind es die einfachen, auf den ersten Blick banalen Alltagsbilder, die besonders wirksam sind. Gerade durch ihre scheinbare Nebensächlichkeit entlarven sie das ganze Ausmaß des Feindbilds Anorexie. Wenn Raimund zum Beispiel den Kampf gegen den Wecker verliert, bis mittags schläft und sich beim Aufwachen heimlich freut, das Frühstück verpasst und so Kalorien gespart zu haben. Oder wenn Tim über sein Tagebuch gebeugt zugibt, er habe immer wieder aufschreiben müssen, dass ihn die Krankheit einmal fast umgebracht habe. Weil er an manchen Tagen vergesse, dass man an ihr sterben könne und es ihm an anderen, noch schlimmeren Tagen fast schon egal sei.

Barbara Schmickler gibt solch erschütternden Aussagen ganz bewusst viel Raum. Sie kommentiert nicht, verortet nichts und stellt die traumatischen Sätze auch keiner tröstlichen Zukunftsvision gegenüber. Auch für männliche Betroffene hat Magersucht schließlich ihre eigene, perfide Logik. Und die wird in diesem eindrücklichen, aufschlussreichen Portrait nun mal nicht verharmlost.

Fazit: Ungeschönter Blick auf eine schwerwiegende Krankheit.

WDR, Donnerstag, 26. Oktober, 22.40 Uhr