Oldenburg. Vergiftete Ex-Krankenpfleger Niels Högel 100 Patienten? Am Donnerstag sagen Ermittler aus. Vorwürfe gibt es jedoch nicht nur gegen ihn.

Dieses Mal steht nicht der mutmaßliche Serienkiller im Mittelpunkt. Diesmal richten sich die Kameras und Mikrofone auf den Mann, der Niels Högel auf die Anklagebank gebracht hat – auf Arne Schmidt.

Ohne den Leiter der 15-köpfigen Sonderkommission „Kardio“ hätte niemand an 100 Morde geglaubt, die Högel zur Last gelegt werden. Was Kriminaldirektor Schmidt am Donnerstag vor dem Oldenburger Landgericht sagt, taucht den größten Mordprozess in ein noch dunkleres Licht.

Der Chefermittler belastet nicht nur den Angeklagten schwer, sondern auch Verantwortliche der Kliniken, in denen der heute 42-Jährige getötet hat.

„Am Ende ging es ihm nur darum, zu töten“

Von Februar 2000 bis Juni 2005 soll Högel schwerkranke Patienten der Kliniken Oldenburg und Delmenhorst mit Giften an den Rand des Todes gespritzt haben, um sie anschließend wiederzubeleben und im Erfolgsfall als gefeierter Held dazustehen. Er tötete regelmäßig – einige Morde gab er zu. Niels Högel sagte selbst: „Ich wollte erwischt werden“.

So beschreibt es der Angeklagte, so glaubten es zunächst auch die Strafverfolger. Heute glauben sie Högel kein Wort mehr. „Am Ende ging es ihm nur darum, zu töten“, sagt der Chefermittler.

137 Leichen sind ausgegraben worden – ein beispielloser Vorgang

Der Soko-Chef hat Högel drei Jahre lang durchleuchtet wie ein kriminalistischer Computertomograph. Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft hat er sämtliche Dienste in den Klinken Oldenburg und Delmenhorst aufgelistet und analysiert, rund 800 Rettungsdienstprotokolle ausgewertet, mehr als 500 Patientenakten überprüft und über 300 Strafverfahren wegen Mordverdachts eingeleitet, fast 300 rechtsmedizinische Gutachten initiiert.

Er hat auf 67 Friedhöfen 137 Leichen ausgraben lassen – in Niedersachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen, aber auch in der Türkei und in Polen, wo ehemalige Patienten aus Oldenburg oder Delmenhorst bestattet worden waren, die Högel vielleicht auf dem Gewissen hat.

Allein für die Exhumierungen leisteten die Beamten mehr als 10.000 Arbeitsstunden. Auch das ist beispiellos in der deutschen Kriminalgeschichte.

Högel gibt 43 Fälle zu – 52 habe er vergessen, fünf streitet er ab

Bisher ist der Ex-Krankenpfleger in 43 Fällen geständig, an 52 will er sich nicht mehr erinnern können, fünf streitet er ab. Letzteres wirft die Frage auf: Gibt es einen weiteren Täter, den unsichtbaren Dritten? Nein, meint Schmidt.

Das Interesse an dem Prozess ist so groß, dass er in der Weser-Ems-Halle stattfindet.
Das Interesse an dem Prozess ist so groß, dass er in der Weser-Ems-Halle stattfindet. © dpa | Julian Stratenschulte

Für ihn ist Högel der Einzige, der „die Macht über Leben und Tod ausgeübt“ hat. „Ich glaube, dass er immer noch nicht ehrlich ist“, sagt der Chefermittler. Högel sei ein notorischer Lügner mit ebenso flexiblem wie systematischem Täuschungsrepertoire. „Stufe eins ist: Er leugnet“, wisse von nichts oder könne sich nicht erinnern – „ich schwöre“.

Wenn sich die Beweise dann verdichten, schalte er um auf „Stufe zwei: die Erinnerungslosigkeit“ – sei ja auch kein Wunder, bei dem Alkohol- und Tablettenkonsum. „Erst wenn nichts mehr hilft“ und der Beweis auf dem Tisch liege, folge „Stufe drei: ein Geständnis“. Das entspreche dann überraschend oft auch im Detail der Wahrheit.

Wie oft mit Högel das Verderben auf die Stationen kam, zeigen Statistiken, die Schmidt auf Leinwand präsentiert. Rote Balken symbolisieren die Todesfälle und meist, wenn der Ex-Pfleger im Dienst war, gab es auffallend viele und mächtige rote Balken.

„Explosionsartiger Verbrauch“ des giftigen Mittels nachgewiesen

Die Kliniken kümmerte das offenbar nicht. Sie hätten aufs Geld statt auf die Gesundheit geschaut, vermutet Schmidt. Ein Indiz: „Der explosionsartige Verbrauch“ giftiger Mittel, so der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann, sei nie bemängelt worden – wohl weil die Substanzen sehr billig in der Anschaffung waren.

Verdächtig erscheinen den Ermittlern verbreitete Erinnerungslücken in der Oldenburger Klinikbelegschaft. Selbst außergewöhnliche Ereignisse schienen wie aus den Köpfen gelöscht. Hier werde gezielt gemauert, vermuten die Fahnder.

Mitarbeiter der Klinik abgehört – gegen fünf Personen laufen Ermittlungen

Durchgehen lassen wollen sie das nicht. Die Strafverfolger trauen einigen Verantwortlichen der Krankenhäuser nicht über den Weg. Vier Mitarbeiter der Klinik in Delmenhorst sind bereits angeklagt. Der Vorwurf: Totschlag durch Unterlassen.

Jetzt wird es auch eng für Verantwortliche im Klinikum Oldenburg. Gegen fünf Personen laufen Ermittlungen. Ein Verdacht hier: Vertuschungsgefahr. Laut Kriminaldirektor Schmidt wurden gezielt Telefone von Mitarbeitern abgehört.

Nach Informationen unserer Redaktion sind die Überwachungen noch recht frisch. Sie hätten vor rund einem Jahr begonnen und wären noch aktuell, war gestern aus Polizeikreisen zu hören.