Washington/Los Angeles. Sonntagnacht werden die Oscars verliehen, die Welt sieht zu. Sender hoffen auf Glamour und Herzschmerz – und fürchten zu viel Politik.
Sie stehen zwischen Wilshire Boulevard und La Brea Avenue mitten in Hollywood. Drei große Werbetafeln. Darauf zu lesen: „Wir wussten es alle und noch immer keine Verhaftungen“. Oder: „Nennt Namen auf der Bühne oder haltet verdammt noch mal das Maul“. Oder, last but not least: „Und der Oscar für den schlimmsten Pädophilen geht an…“
Hunderte Promis, die am Sonntagabend in Stretch-Limos zur Oscar-Verleihung ins Dolby Theatre kutschiert werden, dürften sie nicht übersehen können. Ein Straßenkünstler namens Sabo hat sich den Wink-mit-dem-Plakatpfahl-Gag erlaubt, der vom favorisierten Meisterwerk „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ inspiriert ist. Der ach so liberalen Filmindustrie soll nach den jüngsten Sex-Skandalen bitterbös der Spiegel vorgehalten werden. Fünf Monate nach der weinsteinschen Zeitenwende ist klar: Sorgenfreies Feiern und Goldjungenverteilen wird das nicht.
Hollywoods Männer im Minenfeld
Vor allem auf Hollywoods Männer wartet bei der 90. Leistungsshow ein Minenfeld. Jeder Satz auf der Bühne wird darauf abgeklopft werden, was hinter der schnieken Smoking-Fassade lauert. Oder lauern könnte. Augenverdrehen nicht ausgeschlossen. Casey Affleck, jüngst Preisträger für „Manchester by the Sea“, hat sich der Rolle als Preisüberbringer lieber gleich entzogen. Auch er sieht sich mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs konfrontiert.
Die #MeToo-Bewegung ist zwar inzwischen in „Time’s up“ („Eure Zeit ist um“) übergegangen. Dennoch ist auch für Frauen die Lage vor Betreten des roten Teppichs nicht ohne. Nach dem ganz in Schwarz absolvierten Auftritt bei den „Golden Globes“ im Januar, die im Zeichen von demonstrativer Solidarität mit den Opfern männlicher Übergriffigkeit standen, sehen sich die von der zum 21. Mal nominierten Titanin Meryl Streep angeführten Film-Damen einer ökonomisch motivierten Erwartung gegenüber: Die Produzenten der pompösen Show vom Sender ABC wünschen sich sehnlichst, dass der Elefant im Raum (Weinstein & Co.) möglichst im Hintergrund bleibt. Und damit auch die Brandreden jener, die als Preisträger Rederecht genießen – bis die Orchestermusik sie von der Bühne geigt.
Das sind die Oscar-Nominierten 2018
Zweitniedrigste Quote seit mehr als 40 Jahren
Dahinter steht die Sorge vor noch tiefer in den Keller rauschenden Quoten. Mit 33 Millionen Zuschauern war die letztjährige Nabelschau, bei der ein aus einem irren Drehbuch gerade frisch ins Amt gelangter Präsident Seitenhiebe abbekam, die zweitniedrigste seit über 40 Jahren. Das Marktforschungsunternehmen Nielsen hat ermittelt, dass Otto-Normaloscargucker mit Glamour und Herzschmerz-Szenen ihre Tränendrüsen massiert wissen wollen. Wenn Schauspieler in Venceremos-Manier politisches Tagesgeschehen kommentieren, wird umgeschaltet.
Ob die Balance zwischen Lobpreisungen herausragender Leinwand-Leistungen und beißender Gesellschaftskritik gelingt, hängt auch von Jimmy Kimmel ab. Wie im Vorjahr, als die Vergabe des Preises für den besten Film (erst „La-La-Land“, dann „Moonlight“) durch eine bizarre Umschlagpanne erschwert wurde, wird der auf Anti-Trump-Kurs segelnde Talkshow-Moderator durch den Abend führen. Sein Credo: „Missbrauch soll nicht totgeschwiegen werden. Aber auch nicht alles überlagern.“
Academy 6000 stimmberechtigte Mitglieder
Was funktionieren könnte, wenn die 6000 stimmberechtigten Mitglieder der Academy ordentlich dem Umstand Rechnung getragen haben, dass in nahezu allen zentralen Kategorien Frauen prägende Anteile haben. Verdientermaßen.
Was sich an der Vorhersagen-Front so bemerkbar macht: „Shape of Water“, die Saga vom Echsenwesen, das sich in eine stumme Putzfrau (Sally Hawkins) verliebt, rangiert beim Branchen-Magazin Hollywood-Reporter als „bester Film“ unangefochten oben. Ebenso Guillermo del Toro, der Regisseur. Dicht gefolgt von Christopher Nolan, der in dem Kriegsepos „Dunkirk“ einen Moment britischen Selbsterhaltungstriebs gegen Hitlerdeutschland genial in Szene setzte.
Frances McDormand hätte Auszeichnung verdient
Apropos Briten. Für seine Anverwandlung des damaligen Kriegs-Premierministers Winston Churchill hat Gary Oldman den Goldjungen in der Kategorie bester Schauspieler beinahe schon in der Tasche. Auch wenn der junge Timothée Chalamet in dem bezaubernden Erwachsenwerden-Sommermärchen „Call Me By Your Name“ eine hinreißende Vorstellung gibt.
Einer solchen Glanztat darf sich auch Frances McDormand rühmen. Für ihren johnwayne’schen Rache-Auftritt in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ hätte sie 21 Jahre nach ihrem ersten Oscar für „Fargo“ erneut die höchste Auszeichnung verdient, sagen die Buchmacher. Dabei ist die Konkurrenz von Meryl Streep (als Verlegerin der Washington Post) bis Saoirse Ronan (als rebellischer Teenager in „Lady Bird“, gedreht von der ebenfalls nominierten Greta Gerwig) prächtig.
Die besten Nebenrollen werden laut Prognose wahrscheinlich wie folgt verteilt: Sam Rockwell, als brutal-dumpfer Cop in eben jenen „Three Billboards“. Und die großartige Allison Janney in dem Eislauf-Drama „I, Tonya“. Die fieseste Film-Mutter aller Zeiten hätte mit Typen wie Harvey Weinstein wahrscheinlich den Boden aufgewischt.