Celle. Im Prozess gegen Abu Walaa schildert ein Ex-IS-Anhänger die Gewalt der Terrormiliz. Wird er jemals wieder ohne Angst vor Rache leben?

Als Medizinstudent in Aachen stehen dem jungen Deutschtürken Karriere und gesellschaftliche Anerkennung bevor, eine Familie hat er bereits gegründet. Stattdessen bricht er mit Frau und kleinem Sohn zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf, 2015, als die Barbarei der Extremisten längst kein Geheimnis mehr ist. Einen muslimischen Modellstaat, ein Paradies auf Erden, wo er als Mediziner helfen könne, habe er sich erhofft, schildert er zwei Jahre später als Kronzeuge vor dem Oberlandesgericht Celle im Prozess gegen den mutmaßlichen IS-Deutschlandchef Abu Walaa.

Einmal vor Ort in Syrien öffnen sich ihm die Augen, angewidert wendet er sich vom IS ab. Von da an geht es ums nackte Überleben, sagt der 23-Jährige am Dienstag aus. „Es war alles ziemlich heftig da, zu diesem Zeitpunkt gab es schon starke Bombardierungen in Rakka, jede Stunde hat eine Rakete irgendwo eingeschlagen und der Boden hat immer gebebt.“

Medizinische Versorgung sei nur für IS-Leute gratis gewesen

Die Zivilisten, die einfachen Muslime, hätte der IS verachtet, als Kollaborateure des Westens bezeichnet. Und mit dem Modellstaat sei es schon bei der medizinischen Versorgung vorbei gewesen. Zivilisten hätten dafür bezahlen müssen, gratis sei sie nur für IS-Leute gewesen.

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    Das Netzwerk Abu Walaas habe vor Ort hohes Ansehen genossen. Als einen der Größten und Furchtlosesten, der im Irak für den IS gekämpft habe, hätten IS-Verantwortliche den Hildesheimer Prediger dargestellt. Ein mitangeklagter IS-Unterstützer aus Duisburg habe den Ruf gehabt, regelmäßig „gute Leute“ zu schicken, sagt der Kronzeuge. Damit seien Kämpfer gemeint gewesen, die zum Selbstmordattentäter geworden seien – wie zwei von dem Duisburger geschickte Zwillingsbrüder aus Castrop-Rauxel, die bei Anschlägen im Irak mehr als 150 Menschen töteten.

    70 Tage Folterhaft nach Fluchtversuch

    Vollends erschüttert sei er gewesen, als der IS ihm ein entführtes jesidisches Mädchen als Sexsklavin zu verkaufen versucht habe, für 3000 Dollar. „Das, was das Mädchen geschildert hat, war derart abartig und krank.“

    Ein gescheiterter Fluchtversuch, auf den zahlreiche andere folgen, führt für ihn zu 70 Tagen Folterhaft in einem IS-Kerker, der Gefängniswärter wird als „der ägyptische Schlächter“ bezeichnet. Ein Deutscher verhört ihn für den IS-Geheimdienst, er kommt aus Hildesheim. Während der Kronzeuge all dies im Gericht in Celle schildert, grinsen Abu Walaa und einige der vier Mitangeklagten auf der Anklagebank.

    IS bedroht Kronzeuge mit Tod aus Rache

    Nach Beschuss durch türkische Grenzsoldaten und langen Fußmärschen sei ihm mit Hilfe seines Vaters schließlich die Flucht zurück über die Grenze gelungen, schildert der Zeuge. Mit seinem detaillierten Insiderwissen will die Bundesanwaltschaft Abu Walaa und vier weitere mutmaßliche Terrordrahtzieher für lange Zeit hinter Gitter bringen.

    Im eigenen Prozess wegen Unterstützung des IS hat dem Kronzeugen seine Kooperationsbereitschaft mit den Sicherheitsbehörden eine Bewährungsstrafe ermöglicht. Zugleich aber befindet er sich auf einer Flucht, die trotz seiner Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm womöglich nie endet. Nach Start seiner Aussage in der vergangenen Woche sei er vom IS erneut mit dem Tod bedroht worden, sagt er am Dienstag. Er sei „zum Abschuss freigegeben“. (dpa)