Berlin. Anja Gehlkens Tochter hatte als Baby einen Schlaganfall. Mit ihrem Verein will die Mutter anderen helfen. Dafür wird sie ausgezeichnet.
Anja Gehlken (45) möchte das Leben von Kindern besser machen, die einen Schlaganfall hatten. Dass ihr das so am Herzen liegt, ist einerseits Berufung – und andererseits ein bisschen Zufall. Gehlkens Tochter Isabel ist selbst betroffen, das ist sicher ein guter Grund für diese Arbeit. Dass sie die im Verein „SCHAKI“ tut, ist Zufall. Vor allem ist sie ausgezeichnet: Anja Gehlken bekommt für ihr Engagement die Goldene Bild der Frau. Den Preis verleiht die Frauenzeitschrift „Bild der Frau“ der Funke Mediengruppe an Frauen, die sich in sozialen Projekten engagieren.
Wenn Anja Gehlken an das erste Treffen mit anderen Eltern und anderen Schlaganfall-Kindern zurückdenkt, kommen ihr heute noch die Tränen. „Das war so – mir fehlen die Worte, das zu beschreiben – so beeindruckend. Ich war sehr erleichtert zu sehen: Es gibt noch andere, die so sind wie wir.“ Nämlich wie? „Dass man auch den großen Kindern noch das Essen auf dem Teller kleinschneiden muss. Dass die einen auffälligen Gang haben. Plötzlich waren wir nicht mehr alleine.“
Tochter Isabel erlitt einen Schöaganfall
Alleine fühlten sich die 45-Jährige und ihr Mann rund sieben Jahre. Im November 2000 kommt Isabel zur Welt. Als sie ein halbes Jahr alt ist, fällt Anja Gehlken zum ersten Mal richtig auf, dass irgendwas anders ist mit ihrem Baby, der Vergleich mit den Kindern in Babykursen bestärkt sie in ihrer Ansicht. „Irgendwie kam da nicht so das, was man erwartet hat, was die anderen schon gemacht haben. Dann haben wir genauer hingeschaut. Und dann kam irgendwann die Erkenntnis: Sie benutzt ihre rechte Seite überhaupt nicht.“
Der Kinderarzt will nach einer kurzen Untersuchung die Beobachtungen der Eltern nicht bestätigen. „Da kam dann das, was heute immer noch viele Eltern zu hören kriegen: Erstes Kind, junge Eltern – die sind hysterisch.“ Gehlken lässt sich nicht beirren, sucht weiter nach Ursachen, einer Diagnose, Hilfe, jahrelang. Bei einem MRT wird schließlich eine Narbe im Gehirn der kleinen Tochter festgestellt, die sei „unklarer Herkunft“ heißt es im Befund, da ist Isabel zweieinhalb.
„Goldene Bild der Frau“-Preisträgerinnen
Eine riesige Erleichterung
Ist das nicht frustrierend und beängstigend, nicht zu wissen, was wirklich los ist? „Uns war es irgendwann egal. Wir haben uns gedacht: Wir kriegen keine Antwort. Der Grund ist unklar, aber es ist etwas da, was nicht richtig ist, was nicht passt – und da wollen wir gegensteuern. Egal was die Ursache ist, diese Halbseitenlähmung wollen wir therapieren.“
Das tat die Familie aus dem nordrhein-westfälischen Rödinghausen. Dann lasen Gehlkens Eltern zufällig einen Artikel über „SCHAKI“. Erkannten die Symptome der Enkelin in der Beschreibung der Schlaganfall-Kinder wieder und reichten die Zeitung an ihre Tochter weiter. Und die fühlte eine riesige Erleichterung, als sie sich zum ersten Mal mit den anderen betroffenen Familien traf.
Den grauen Therapie-Alltag aufheitern
2012 übernahm Gehlken die Leitung der Selbsthilfegruppe, seit der Gründung des Vereins 2014 ist sie seine Vorsitzende. Eine der wichtigsten Funktionen des Vereins sei die Information im Internet und der Austausch über Facebook oder WhatsApp – schließlich leben die betroffenen Familien in ganz Deutschland verstreut. Dazu kommen die Treffen, sagt Gehlken: „Die Kinder haben so einen grauen Therapie-Alltag – wir sorgen für die Farbkleckse im Leben.“ Immer öfter verbringen die Familien ganze Wochenenden miteinander, damit sich die Anreise für die Vereinsmitglieder von weiter her lohnt.
Und der Alltag der Kinder ist anstrengend. „Unser Orthopäde hat das mal mit einem Auto verglichen: Die Kinder sind ständig im roten Drehzahlbereich. Bei jeder Aktion, bei allem, was sie machen.“ Ein weiteres Problem: Wie anstrengend jede einzelne Aktivität für das Kind ist, ist für Außenstehende oft nicht zu erkennen – was häufig Unverständnis nach sich zieht, zum Beispiel auch in der Schule.
Etwa 300 Betroffene jährlich
Rund 300 Mal im Jahr werden Schlaganfälle bei Kindern diagnostiziert, nicht selten treffen sie die Babys schon vor der Geburt. Die Dunkelziffer liegt allerdings sehr viel höher: Gehlkens Tochter ist ein Beispiel, die Vorstellung der Schlaganfall-Kinder auf der „SCHAKI“-Webseite lassen erahnen, dass es häufig Jahre dauert, bis die Diagnose gestellt wird. Und viele würden auch gar nicht erkannt, meint Gehlken.
Was gibt der zweifachen Mutter die Kraft für Ihre Arbeit? „Einerseits die Rückmeldungen, die ich bekomme: Dass es ankommt, was ich tue, dass es für die Familien wichtig ist“, sagt die 45-Jährige. „Und andererseits merke ich selbst, wie mir der Austausch weiter gut tut, auch wenn Isabel schon zu den Ältesten gehört. Ich sehe, dass die Familien heute den gleichen Weg gehen, den wir gegangen sind. Das ist auch rückwirkend eine Erleichterung – wir haben eigentlich alles richtig gemacht.“ Aus ihrem Tun schöpfe sie Kraft zum Weitermachen.
Die Auszeichnung mit der Goldenen Bild der Frau empfindet Gehlken als überwältigend: „Das ist eine ganz großartige Anerkennung.“ Die vielleicht hilft, dass weitere Betroffene „SCHAKI“ entdecken. Für andere Familien mit Schlaganfall-Kindern hat Anja Gehlken einen Rat: „Nicht den Kopf in den Sand stecken! Es ist ein Handicap, es macht einen auch wirklich traurig, manchmal auch hilflos. Aber wir lassen uns davon nicht ausbremsen. Wir sagen: Wir können es nicht ändern, wir machen das Beste aus der Situation. Das ist unser Weg, den gehen wir – und versuchen, ihn so bunt wie möglich zu gestalten.“
Das sind die anderen Preisträgerinnen:
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