Vor zehn Jahren verschwand der fünfjährige Pascal spurlos. Der Fall ist recht spektakulär. Ob Pascals Schicksal jemals aufgeklärt wird, ist fraglich.

Saarbrücken. Geblieben sind nur ein paar Fotos. Sie zeigen den kleinen, schmächtigen Pascal, mal strahlend vor einem großen Fahrrad, mal schüchtern im Treppenhaus, meist in Jogginganzug und mit Turnschuhen. Dieses Outfit trug der Fünfjährige auch, als er am letzten September-Sonntag vor zehn Jahren (30. September 2001) im Saarbrücker Problemstadtteil Burbach verschwand. Seither fehlt von ihm jede Spur. „Was den Fall so besonders macht, ist das langwierige Strafverfahren mit Geständnissen und Widerrufen von Personen, die nicht voll durchschauten, was vor sich ging“, resümiert der Kriminalpsychologe, Prof. Rudolf Egg.

Sicher ist auch nach einem Jahrzehnt nur eines: Um 16.50 Uhr an jenem Kirmes-Sonntag wurde Pascal zum letzten Mal gesehen, nahe der „Tosa-Klause“, einer Bierkneipe unweit der Wohnung seiner Eltern. Noch am Abend machen sich Angehörige und Anwohner auf die Suche, rufen die Polizei. Dutzende Beamte mit Spürhunden durchkämmen in den folgenden Tagen die Gegend, Taucher suchen in der Saar, Tornado-Flugzeuge mit Wärmebildkameras überfliegen den Stadtteil. Vergeblich - nicht einmal Pascals Fahrrad wird gefunden.

Die Fahnder tappen im Dunkeln. 17 Monate danach dann scheinbar der Durchbruch: Ende Februar 2003 meldet die Polizei, der Junge sei vermutlich in der „Tosa-Klause“ Opfer eines Kinderschänderrings geworden, mehrere Verdächtige werden gefasst, einige legen Geständnisse ab. Eine Aussage von Pascals Spielkamerad Kevin hatte die Fahnder auf die Spur gebracht. Der Junge hatte seiner Pflegemutter erzählt, er sei ebenfalls von Männern vergewaltigt worden. Danach rekonstruieren die Fahnder eine schier unfassbare Tat: Mit einem Lutscher soll Pascal in die „Tosa-Klause“ gelockt, dort von vier Männern im Hinterzimmer brutal vergewaltigt und - als er sich zu stark wehrte - mit einem Kissen erstickt worden sein.

Der Fall scheint plötzlich klar. Die Staatsanwalt erhebt eine erste Anklage gegen einen Tosa-Stammgast. Er wird im Oktober wegen sexuellen Missbrauchs, nicht aber wegen Mordes zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Knapp ein Jahr später beginnt dann einer der längsten Kindermord-Prozesse der deutschen Rechtsgeschichte. Verhandelt wird gegen die Wirtin der Kneipe, ihren Lebensgefährten und sage und schreibe elf weitere Gäste der Spelunke.

Einige Angeklagte wiederholen vor Gericht zunächst ihre Geständnisse. Doch schon bald bröckelt die Anklage, immer mehr Ungereimtheiten in den Aussagen kommen zusammen. Der Prozess zieht sich hin. Bis Juni 2006 werden alle Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 31. August 2006 widerruft auch die Hauptbelastungszeugin und Angeklagte Andrea M., leibliche Mutter von Kevin, ihre Aussage zum Tathergang. Und harte Beweise - etwa Blutspuren aus der mutmaßlichen Tosa-Kammer des Schreckens oder gar eine Leiche - gibt es nicht.

Nach 147 Verhandlungstagen, mehreren hundert Zeugenvernehmungen und knapp drei Jahren Prozessdauer werden die Angeklagten am 7. September 2007 freigesprochen. Es ist ein Freispruch „dritter Klasse“, wie einer der Verteidiger meint. Denn es erscheint dem Gericht durchaus als möglich, dass sich die grausige Tat so abgespielt hat, wie Staatsanwaltschaft und Polizei bis heute glauben. Doch: „Es gibt keine zweifelsfreie Überzeugung. Daher gilt „Im Zweifel für den Angeklagten““, wie der Vorsitzende Richter Ulrich Chudoba betont.

Für Justiz und Polizei ist die Akte „Pascal“ geschlossen. Anfang 2009 hat der Bundesgerichtshof auch die Freisprüche für die Hauptangeklagten bestätigt. Die Richter kamen zu der Überzeugung, dass Geständnisse durch „suggestive Vorhalte“ bei den Vernehmungen der Angeklagten, die überwiegend einen äußerst niedrigen Intelligenzquotienten hatten oder alkoholkrank waren, zustande kamen. Motto: „Ich erzähle ihnen mal eine Geschichte. War es nicht so?“

Das Verfahren hat allen Beteiligten geschadet: den Polizeibeamten, die sich mit dem Grauen auseinandersetzten mussten, der trauernden Schwester der inzwischen gestorbenen Mutter von Pascal, aber auch den damals Angeklagten: „Die können sich bis heute kaum irgendwo blicken lassen: Immer wenn sie kommen, heißt es: Da sind ja wieder die Schweine“, berichtet Michael Rehberger, damals Verteidiger des Lebensgefährten der Tosa-Wirtin Christa W.

Und viele Menschen lässt der ungeklärte Fall Pascal bis heute nicht los. Vielleicht wird der Junge ja doch noch gefunden - tot oder lebendig? Doch die Chancen dafür sind verschwindend gering. Kriminal-Psychologe Egg sieht dafür „keine echte Wahrscheinlichkeit“. Aber: „Der Wunsch der Menschen, das Rätsel aufzulösen, bleibt.“