17-Jähriger meldete sich bei der Polizei in Berlin, nachdem sein Vater starb. Mit diesem will er zuvor fünf Jahre lang durch die Wälder gezogen sein.

Berlin/Hildesheim. Fünf Jahre lang soll er mit seinem Vater auf Wanderschaft durch die Natur gewesen sein - bis sein Vormund starb und er sich ganz alleine bis nach Berlin durchschlug. Diese Geschichte erzählte ein Jugendlicher, der sich selbst Ray nennt und sein Alter auf 17 Jahre bezifferte, bereits am 5. September der Polizei in der Hauptstadt. Jetzt wurde die Geschichte des jugendlichen "Waldmenschen" öffentlich - und die Polizei versucht europaweit, die Geschichte des Jungen zu entschlüsseln.

Ray war am 5. September vor dem Roten Rathaus in Berlin aufgetaucht und habe berichtet, jahrelang in Wäldern gelebt zu haben, sagte ein Polizeisprecher am Freitag und bestätigte damit einen Bericht der "Bild“-Zeitung. Der blonde, athletische Junge mit blauen Augen spreche Englisch und nur gebrochen Deutsch. Sein Körper weise keinerlei Mangelerscheinungen auf. Sein Alter gab der Jugendliche mit 17 Jahren an.

Der Junge berichtete laut Polizei, er heiße Ray und sei zusammen mit seinem Vater durch die Natur gewandert. Vor einigen Wochen sei der Vater tödlich gestürzt, woraufhin der Junge mit einem Kompass in Richtung Norden bis nach Berlin gelaufen sei. Seinen Vater habe Ray in eine Grube gelegt. Wo genau, wisse er nicht. Die Polizei prüft derzeit die Geschichte, der junge Mann ist in der Obhut des Jugendamts.

"Es spricht vieles dafür, dass er nicht aus Deutschland stammt“, sagte der Sprecher. Der einsame Wanderer mit der geheimnisvollen Vergangenheit spreche Englisch und einige Brocken Deutsch. Es sei gut möglich, dass er auch in anderen Ländern unterwegs gewesen sei. "Es gibt keine Hinweise, dass er misshandelt oder vernachlässigt wurde.“

Jetzt werde über Interpol - die europäische Polizeibehörde - versucht, die Identität zu klären. "Gibt es irgendwo eine Vermisstenanzeige?“, sei dabei eine der Fragen. Auch ein Foto, das die Polizei nach dem Auftauchen anfertigte, sei an ausländische Kollegen geschickt worden. Wenn klar ist, wer der Fremde ist, könnten vielleicht Familienangehörige ausfindig gemacht werden.

Über Interpol werde nun auch überprüft, ob in einem der EU-Staaten ein unbekannter Toter gefunden wurde. In Berliner oder Brandenburger Wäldern nach dem Vater zu suchen, halten die Ermittler im Moment nicht für sinnvoll. "Wo soll man da anfangen - so ganz ohne Hinweise?“ Die Öffentlichkeit soll bei der Suche nach der Identität des Fremden zunächst nicht eingeschaltet werden.

Ein extra Ermittlerteam soll es nicht geben. "Der Junge ist unversehrt, gepflegt und in guter körperlicher Verfassung. Es ist keine Gefahr im Verzug“, sagte der Polizeisprecher. Ray sei derzeit in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Weil der Junge noch nicht volljährig sei, bekomme er einen amtlichen Vormund.

Beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) hieß es auf Anfrage, für solche Fälle seien beispielsweise eine Betreuung rund um die Uhr oder die Unterbringung in einer Wohngemeinschaft denkbar - das hänge von der Selbstständigkeit des Schützlings ab. Der Fremde sei aber nicht in einer EJF-Einrichtung.

Psychologe: Nur wenige Fälle von "Waldmenschen“

Dass sich Menschen allein in der Natur durchschlagen, ist aus Expertensicht sehr selten. "Tatsächlich gibt es nicht viele ähnliche Fälle“, sagt der Psychologe Werner Greve von der Universität Hildesheim. "Selbst wenn man sehr gründlich sucht, bin ich ziemlich sicher, dass wir auch über mehrere Dekaden kaum ein Dutzend Fälle finden würden.“

Folgen des abgeschiedenen Lebens könnten ernsthafte Störungen im Sozialverhalten sein, weil wichtige Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen nicht erlernt wurden. Es sei aber auch genauso gut denkbar, dass sich ein Einsiedler bei gelegentlichen Kontakten mit der Zivilisation normal entwickele.

Den Fall "Ray" sollen die Behörden genau prüfen, rät Greve. "Man muss sich das erstmal genau anschauen. Fünf Jahre ist ein sehr langer Zeitraum, gemessen daran wirkt, zumindest dem Foto nach zu urteilen, der junge Mann relativ gepflegt und nicht verwahrlost.“ Es sei möglich, dass es sich um eine eingebildete Geschichte handele.

Hintergrund: Aussteiger und "Waldmenschen"

Der Fall des geheimnisvollen Naturburschen Ray erinnert an andere Fälle – eine Auswahl:

Zwei junge Franzosen wurden zehn Jahre lang von ihrem Vater in den Pyrenäen versteckt. Der Mann brachte die Söhne 1998 nach einem Besuch nicht zur Mutter zurück, sondern zog mit ihnen in die Berge nahe der spanischen Grenze. Zuletzt lebten die drei in einem Gehöft ohne Strom und fließendes Wasser. Sie hielten Schweine, Ziegen und Kaninchen und lebten von selbst angebautem Gemüse. Nachdem der „Waldmensch“ 2009 mit seinen inzwischen 17 und 18 Jahre alten Jungen entdeckt wurde, machte man ihm den Prozess. Er bekam eine milde Bewährungsstrafe, was auch an den Aussagen der Söhne lag: Sie berichteten von einer glücklichen Kindheit, in der es ihnen an nichts gefehlt habe. Ihre Mutter, die jahrelang nach ihnen suchte, hatten sie für tot gehalten.

Auch im dicht besiedelten Deutschland gibt es Rückzugsmöglichkeiten für "Zivilisationsflüchtlinge“. Nach Zeitungsberichten über einen „Waldmenschen“ an der Mosel wurde 2007 ein 43-jähriger Amerikaner bei Koblenz aufgegriffen – nach vier Jahren in der „Wildnis“. Seit 2000 hatte er in Deutschland gelebt, als ihn 2003 die Trennung von seiner Freundin aus der Bahn warf und er sich ohne Wohnsitz, Pass und Aufenthaltsgenehmigung wiederfand. Er zog sich von allen Menschen zurück und hauste als Naturbursche nahe Kobern-Gondorf, abgeschieden im Wald.

"Waldmensch vom Westerwald“ wird ein jetzt 61-Jähriger genannt, der sich bereits vor neun Jahren in die Wälder bei Arborn an der Grenze von Hessen zu Rheinland-Pfalz zurückgezogen hat. Er lebt bescheiden in einem alten Wohnwagen – allein mit 80 Schafen. Als Aussteiger sieht er sich aber nicht: „Ich bin Einsteiger, der mit minimalem Energieaufwand auskommt. Das ist Zukunft.“ (dpa/dapd/abendblatt.de)