Er ist blond, blauäugig und spricht nur gebrochen Deutsch. Anfang September meldete sich ein mysteriöser Jugendlicher bei der Polizei und berichtete, er habe jahrelang im Wald gelebt. Bis sein Vater starb...

Berlin. Ein moderner Fall von "Mogli" - oder doch einfach nur ein tragischer Unglücksfall? Das Auftauchen eines unbekannten Jugendlichen gibt der Berliner Polizei Rätsel auf. Ein etwa 18-Jähriger sei am 5. September vor dem Roten Rathaus aufgetaucht und habe berichtet, jahrelang in Wäldern gelebt zu haben, sagte ein Polizeisprecher am Freitag und bestätigte damit einen Bericht der "Bild“-Zeitung. Der blonde, athletische Junge mit blauen Augen spreche Englisch und nur gebrochen Deutsch. Sein Körper weise keinerlei Mangelerscheinungen auf. Sein Alter gab der Jugendliche mit 17 Jahren an.

Der Junge berichtete laut Polizei, er heiße Ray und sei zusammen mit seinem Vater durch die Natur gewandert. Vor einigen Wochen sei der Vater tödlich gestürzt, woraufhin der Junge mit einem Kompass in Richtung Norden bis nach Berlin gelaufen sei. Seinen Vater habe Ray in eine Grube gelegt. Wo genau, wisse er nicht. Die Polizei prüft derzeit die Geschichte, der junge Mann ist in der Obhut des Jugendamts.

"Es spricht vieles dafür, dass er nicht aus Deutschland stammt“, sagte ein Polizeisprecher am Freitag. Der Jugendliche wisse nichts über seine Herkunft. Jetzt werde über die europäische Polizeibehörde Interpol versucht, die Identität des Jungen zu klären. "Gibt es irgendwo eine Vermisstenanzeige?“ sei eine der Fragen dabei.

Nach Angaben der Polizei ist der junge Mann in guter körperlicher Verfassung. Er sei nun zunächst in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Weil der Junge noch nicht volljährig sei, müsse ein amtlicher Vormund für ihn bestellt werden.

Hintergrund: Aussteiger und "Waldmenschen"

Der Fall des geheimnisvollen Naturburschen Ray erinnert an andere Fälle – eine Auswahl:

Zwei junge Franzosen wurden zehn Jahre lang von ihrem Vater in den Pyrenäen versteckt. Der Mann brachte die Söhne 1998 nach einem Besuch nicht zur Mutter zurück, sondern zog mit ihnen in die Berge nahe der spanischen Grenze. Zuletzt lebten die drei in einem Gehöft ohne Strom und fließendes Wasser. Sie hielten Schweine, Ziegen und Kaninchen und lebten von selbst angebautem Gemüse. Nachdem der „Waldmensch“ 2009 mit seinen inzwischen 17 und 18 Jahre alten Jungen entdeckt wurde, machte man ihm den Prozess. Er bekam eine milde Bewährungsstrafe, was auch an den Aussagen der Söhne lag: Sie berichteten von einer glücklichen Kindheit, in der es ihnen an nichts gefehlt habe. Ihre Mutter, die jahrelang nach ihnen suchte, hatten sie für tot gehalten.

Auch im dicht besiedelten Deutschland gibt es Rückzugsmöglichkeiten für "Zivilisationsflüchtlinge“. Nach Zeitungsberichten über einen „Waldmenschen“ an der Mosel wurde 2007 ein 43-jähriger Amerikaner bei Koblenz aufgegriffen – nach vier Jahren in der „Wildnis“. Seit 2000 hatte er in Deutschland gelebt, als ihn 2003 die Trennung von seiner Freundin aus der Bahn warf und er sich ohne Wohnsitz, Pass und Aufenthaltsgenehmigung wiederfand. Er zog sich von allen Menschen zurück und hauste als Naturbursche nahe Kobern-Gondorf, abgeschieden im Wald.

"Waldmensch vom Westerwald“ wird ein jetzt 61-Jähriger genannt, der sich bereits vor neun Jahren in die Wälder bei Arborn an der Grenze von Hessen zu Rheinland-Pfalz zurückgezogen hat. Er lebt bescheiden in einem alten Wohnwagen – allein mit 80 Schafen. Als Aussteiger sieht er sich aber nicht: „Ich bin Einsteiger, der mit minimalem Energieaufwand auskommt. Das ist Zukunft.“ (dpa/dapd/abendblatt.de)