Der Jugendliche erzählt der Polizei, er habe mit seinem Vater die letzten fünf Jahre im Wald gelebt. Wer er ist, wisse er nicht.

Berlin. Ein Zelt trug er bei sich, einen Schlaf- und einen Rucksack. Ausweispapiere hat er nicht. Deutsch spricht er nur bröckchenweise, dafür fließend Englisch. Sein Name sei Ray, er sei 17 Jahre alt und habe die letzten fünf Jahre mit seinem Vater im Wald gelebt, sagt er. Wer er ist und woher er kommt - das wisse er nicht.

Für die Berliner Polizei ist der junge Mann ein Rätsel, wie sie wohl noch keines zu lösen hatte. Es erinnert an das Schicksal des damals 16-jährigen Kaspar Hauser, der 1828 in Nürnberg auftauchte, dessen wahre Identität aber nie geklärt werden konnte. Stattdessen rankten und ranken sich bis heute zahlreiche Mythen um jenen Fall, bis hin zu der Annahme, Kaspar Hauser sei ein badischer Erbprinz gewesen, der beiseitegeschafft werden sollte, um einer Nebenlinie des Herrscherhauses die Thronfolge zu ermöglichen. Tatsächlich wurde Kaspar Hauser fünf Jahre nach seinem Auffinden ermordet.

Der unbekannte junge Mann von Berlin hatte sich am 5. September mitten in der Hauptstadt an Mitarbeiter des Roten Rathauses gewandt. Die übergaben ihn dem Berliner Kindernotdienst, der wiederum die Polizei einschaltete. Die Geschichte, die er den Ermittlern erzählte, klingt unglaublich. Aber auch unglaubwürdig?

Der Junge aus dem Wald mit den dunkelblonden Haaren und den blauen Augen berichtete, er sei mit seinem Vater in der Natur auf Wanderschaft gewesen. Sie hätten in Zelten und Erdhütten geschlafen und sich stets mithilfe eines Kompasses orientiert. Vor zwei Wochen habe er seinen Vater tot im Wald gefunden; er sei an den Folgen eines Sturzes gestorben. Er, Ray, habe den Leichnam in einer Grube beerdigt und sei dann in nördliche Richtung gewandert, bis er schließlich in Berlin angekommen sei. Wo er sich zuletzt aufgehalten habe, könne er nicht sagen.

Es sei wohl eher Zufall, dass der Unbekannte in Berlin gelandet sei, wie es bei den Ermittlern hieß. "Es spricht vieles dafür, dass er nicht aus Deutschland stammt", sagte ein Polizeisprecher. Es sei gut möglich, dass er auch in anderen Ländern unterwegs gewesen sei. "Es gibt keine Hinweise, dass er misshandelt oder vernachlässigt wurde."

Jetzt werde über Interpol versucht, die Identität zu klären. "Gibt es irgendwo eine Vermisstenanzeige?" sei dabei eine der Fragen. Auch ein Foto, das die Polizei nach dem Auftauchen anfertigte, sei an ausländische Kollegen geschickt worden. Wenn klar ist, wer der Fremde ist, könnten vielleicht Familienangehörige ausfindig gemacht werden. Die Mutter allerdings soll bei einem Autounfall gestorben sein.

Über Interpol werde nun auch überprüft, ob in einem der EU-Staaten ein unbekannter Toter gefunden wurde. In Berliner oder Brandenburger Wäldern nach dem Vater zu suchen, halten die Ermittler im Moment nicht für sinnvoll. "Wo soll man da anfangen - so ganz ohne Hinweise?" Die Öffentlichkeit soll bei der Suche nach der Identität des Fremden zunächst nicht eingeschaltet werden.

Ein extra Ermittlerteam soll es nicht geben. "Der Junge ist unversehrt, gepflegt und in guter körperlicher Verfassung. Es ist keine Gefahr im Verzug", sagte der Polizeisprecher. Ray sei derzeit in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Weil der Junge noch nicht volljährig sei, bekomme er einen amtlichen Vormund.

+++ Info: Aussteiger im Wald +++

Immer mal wieder tauchen "Waldmenschen" in Deutschland auf. Manche hatten Alternativen zur Zivilisation gesucht, andere wollten sich verstecken. Für Schlagzeilen sorgte ein amerikanischer Tourist, der nach der Jahrtausendwende jahrelang als Einsiedler in einem Wald nahe Koblenz lebte.

Überlebenstrainer Jörg Pospiech von der Wildnisschule Wildeshausen in Niedersachsen sagte der dpa, es brauche hohes Einfühlungsvermögen, um sich Nahrungsquellen zu erschließen. "Wenn man im Wald lebt, wird man sehr, sehr aufmerksam, und die ganzen Sinne sind da eigentlich jederzeit auf 100 Prozent." Problematisch sei der Schutz gegen Regen, Wind und Kälte. "Das ist schon ein hartes Leben."

Für Aufsehen sorgte auch ein Fall in den 90er-Jahren. Zwei junge Franzosen waren fast zehn Jahre von ihrem Vater in den Pyrenäen versteckt worden. Der Mann hatte die Söhne 1998 nach einem Besuch nicht zur Mutter zurückgebracht, sondern zog mit ihnen in die Berge nahe der spanischen Grenze. Zuletzt lebten sie auf einem Gehöft ohne Strom und fließendes Wasser. Sie hielten Schweine, Ziegen, Kaninchen und lebten von selbst angebautem Gemüse.

Nachdem der "Waldmensch" 2009 mit seinen inzwischen 17 und 18 Jahre alten Jungen entdeckt wurde, machte man ihm den Prozess. Er bekam eine milde Bewährungsstrafe, was auch an den Aussagen der Söhne lag: Sie berichteten von einer glücklichen Kindheit, in der es ihnen an nichts gefehlt habe. Ihre Mutter, die jahrelang nach ihnen suchte, hatten sie für tot gehalten.