Die Vereinigung deutscher Lokführer macht auch der Bahn schwere Vorwürfe: Sie habe unter anderem ein bewährtes Sicherungssystem ignoriert.

Frankfurt/Hordorf. Die Ermittlungen nach dem schweren Zugunglück von Hordorf in Sachsen-Anhalt dauern an. Unterdessen warf die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer der Bahn eine falsche Investitionspolitik vor. Das Unglück mit zahlreichen Toten hätte mit dem seit langen erprobten Sicherungssystem der „Punktförmigen Zugbeeinflussung“ vermieden werden können, erklärte GDL-Chef Claus Weselsky am Montag in Frankfurt am Main. Das System beruht auf Magneten, die in der Lage sind, Züge automatisch zu stoppen, wenn diese Haltsignale überfahren. Statt diese bewährte Technik im bestehenden Netz einzubauen, habe die Bahn in den vergangenen Jahren vornehmlich in moderne Hochgeschwindigkeitsstrecken investiert.

Ein weiterer Faktor sei die Arbeitsbelastung der Lokführer, erklärte die Gewerkschaft. Der Renditedruck in den Eisenbahnunternehmen, kombiniert mit Personalknappheit, führe oftmals zu längeren Dienstschichten und häufigeren Dienstantritten. Alleine bei der Deutschen Bahn schöben die Lokomotivführer mehr als 1,5 Millionen Überstunden und fast 70.000 noch nicht genommene Urlaubstage vor sich her. „Nur ein ausgeruhter Lokomotivführer ist aber in der Lage, seine verantwortungsvolle Tätigkeit in hoher Qualität auszuüben“, meinte Weselsky.

Es stellte sich heraus, dass der Lokführer wohl zwei Hakltesignale überfahren hat.

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Nach dem schweren Zugunglück mit zehn Toten hat die Staatsanwaltschaft Magdeburg ein Ermittlungsverfahren gegen den 41-jährigen Lokführer des Güterzuges eingeleitet. Es besteht ein Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung, der fahrlässigen Körperverletzung und der Gefährdung des Bahnverkehrs, wie Staatsanwaltschaft und Polizei am Montag in einer gemeinsamen Erklärung mitteilten. Dieser stütze sich unter anderem auf die Aussage eines Zeugen. Der Lokführer soll möglicherweise ein Haltesignal überfahren haben.

Die Aufräumarbeiten sind in der Nacht zu Montag weitgehend abgeschlossen worden. Der völlig zerstörte Regionalzug wurde in mehrere Teile zerlegt und mit Spezialfahrzeugen zur weiteren Untersuchung nach Halberstadt abtransportiert. Acht der zehn Toten müssen noch identifiziert werden, die teils lebensbedrohlich Verletzten werden in den Krankenhäusern der Region versorgt. Die Abdrücke ihrer Körper sind im Schnee noch klar zu erkennen. Wie lange die Aufräumarbeiten und die Reparatur der beschädigten Gleise andauere, ist noch unklar.

Es herrschte dichter Nebel, als bei dem offenbar ungebremsten Frontalzusammenstoß eines Güterzugs mit der Regionalbahn am Sonnabend gegen 22.30 Uhr mindestens zehn Menschen ums Leben kamen. Unter den Todesopfern sind der Führer des privat betriebenen Harz-Elbe-Expresses (HEX) sowie die Zugbegleiterin. 23 der etwa 40 Passagiere wurden teils lebensbedrohlich verletzt. Es ist eines der schlimmsten Bahnunglücke in Deutschland seit vielen Jahren. Vor allem junge Leute und auch ausländische Gäste saßen in dem Personenzug, der auf dem Weg von Magdeburg nach Halberstadt war.

Am Morgen danach ist das Technische Hilfswerk mit fast 50 Rettern und zehn Fahrzeugen im Einsatz, um den Zug wieder aufzurichten. Der Triebwagen und der Anhänger waren von der gewaltigen Wucht des Aufpralls aus den Schienen auf das benachbarte, schneebedeckte Feld geschleudert worden. "Wir wollen sichergehen, dass niemand mehr unter den Zugteilen liegt", sagt der Magdeburger THW-Einsatzleiter Mirko Kültz. Daher setzen die Techniker vor allem Hebekissen, die bis zu 130 Tonnen bewegen können, Seilwinden und Lkws ein. Sie müssen langsam vorgehen, falls doch noch ein Opfer gefunden wird. In der Nacht zuvor hätten die THW-Helfer bereits mit mächtigen Scheinwerfern das Feld ausgeleuchtet, damit die Rettungskräfte ihre Arbeit machen konnten, berichtet Kültz.

Was das Unglück auf der eingleisigen Strecke ausgelöst hat, ob es technisches oder menschliches Versagen war, blieb zunächst offen. Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU), der den Unglücksort gestern besuchte, vermutet, "dass ein Haltesignal übersehen wurde". Fest steht: Auf dem Gleisabschnitt war noch kein zusätzliches Sicherungssystem installiert, das Züge automatisch bremsen kann. Die Strecke Magdeburg-Halberstadt sei bisher etwa zur Hälfte damit ausgestattet worden, aber noch nicht am Unfallort bei Hordorf, sagte eine Sprecherin der Deutschen Bahn gestern. Sie betonte, dies sei dort nicht vorgeschrieben, da diese Strecke nur für Fahrten mit bis zu 100 Kilometern pro Stunde zugelassen sei. Pflicht sei dies bei Trassen ab Tempo 100.

Mit dem System der "Punktförmigen Zugbeeinflussung" (PZB) wird eine Zwangsbremsung ausgelöst, wenn ein Zug über ein Haltesignal fährt. Dabei senden Magnete, die mit dem Vorsignal und dem folgenden Hauptsignal verkabelt sind, Signale an ein Empfangsgerät in der Lok. Die 2010 begonnene Ausrüstung der Strecke mit der PZB solle in diesem Jahr fortgesetzt werden. In Hordorf geht eine zweigleisige Strecke an einer Weiche in einen eingleisigen Abschnitt über. Diese Weiche, so die Bahnsprecherin, werde über ein mechanisches Stellwerk bedient. Das dazugehörige Signal stehe normalerweise auf Rot und wechsele erst auf Grün, wenn die Weiche entsprechend gestellt und fixiert sei.

Der Lokführer des Güterzugs - der wohl wichtigste Zeuge des Unfalls - überlebte leicht verletzt. Er steht aber unter Schock und konnte bisher nicht vernommen werden. Nach Informationen des MDR-Fernsehens war der Mann möglicherweise zum Zeitpunkt des Unfalls gar nicht im Führerstand. Ein Polizeisprecher: Dies könne erklären, warum er nur leicht verletzt sei.

Der Güterzug der Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter, der Kalk geladen hatte, steht nur wenig beschädigt auf dem Unglücksgleis. Beide Züge waren mit etwa 80 km/h unterwegs, beide Züge wurden von privaten Anbietern betrieben. Für Gleise und Stellwerke ist indes die Deutsche Bahn zuständig.

Der Knall des Aufpralls war noch in kilometerweiter Entfernung zu hören. Den mehr als hundert Helfern, die schnell am Unglücksort eintrafen, bot sich ein Bild des Grauens: Der Regionalzug wurde bis zum vierten Fenster hin zerfetzt, manche Passagiere liefen hilflos in der Dunkelheit umher. Der Nebel war so dicht, dass kein Rettungshubschrauber fliegen konnte. Um den Überblick nicht zu verlieren, stellten Sanitäter Nummern aus Pappe auf die mit Folien bedeckten Leichen.

Der Fahrgastverband Pro Bahn fordert jetzt schon Konsequenzen des schweren Zugunglücks. „Es muss geklärt werden, ob und wo es gegebenenfalls grundlegende Sicherheitsmängel gibt, insbesondere auf Strecken mit schwerem Güterverkehr und Personenzügen“, sagte der Vorsitzende des Verbandes, Karl-Peter Naumann, den Dortmunder „Ruhr Nachrichten“ (Montagausgabe).

Sicherheitssysteme, die beim Überfahren eines roten Signals eine sofortige Notbremsung auslösen, seien „längst nicht auf allen Strecken in Ostdeutschland“ eingebaut. Dort müsse jetzt schnell nachgerüstet werden. In Westdeutschland seien entsprechende Systeme dagegen Standard. Naumann forderte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) auf, ihr Funktionieren regelmäßig durch das Eisenbahnbundesamt überprüfen zu lassen. „Sicherheit muss Vorrang haben. Es gibt sie nicht zum Nulltarif“, sagte Naumann dem Blatt weiter.

Mit Material von dpa